Über die Grenzen der Teilhabe: keine Inklusion „light“ am 3. Dezember

„Es ist normal verschieden zu sein.“ Mit diesem Satz Richard v. Weizsäckers wird präzise beschrieben, woran viele Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Angehörigen und UnterstützerInnen weltweit am 3. Dezember erinnern.

Bewerbungsschreiben
BilderBox.com

Aber er ist noch immer mehr Utopie als Wirklichkeit. Von der Verwirklichung aller Menschen- und Bürgerrechte die in der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert werden, sind wir noch weit entfernt. Zum einen hat unsere Gesellschaft keine wirkliche Vorstellung von gelebter Verschiedenheit. In letzter Konsequent ist Normalität immer begleitet von Ausgrenzung und Abgrenzung vom Verschiedenen, Fremden, nicht so Schönen, nicht so Leistungsfähigen.
Zum anderen müssen wir ehrlicherweise feststellen: Trotz aller Inklusionsrhetorik, trotz aller Versprechen auf Einlösung der Menschenrechte, trotz aller Versuche Normalität herzustellen sind wir von wirklicher Gleichstellung behinderter Menschen weit entfernt. Der Nationale Aktionsplan Behinderung ist in weiten Teilen in Verzug und wird vor allem von den Bundesländern nur zögerlich umgesetzt. Es geschehen wichtige Schritte, aber das tröstet Menschen die täglich von Ausgrenzung betroffen sind, wenig.

Zwischen Regel- und Restschule

Immer wieder höre ich in der Debatte um Sonderschulen den Einwand: „Aber was machen wir mit den ‚schwer behinderten‘ Kindern, was mit den Verhaltensauffälligen? Brauchen Eltern nicht Wahlfreiheit, in welche Schule sie ihre Kinder mit Beeinträchtigungen schicken. Ja, die ‚leicht behinderten‘ können ja durchaus in die Regelschule, aber da gibt es doch einen kleinen Rest…“
Die Sorgen von Eltern mit Kindern mit komplexen Beeinträchtigungen oder schwierigen Verhaltensweisen für eine gute Schulsituation sind natürlich ernst zu nehmen. Tatsächlich aber haben sie keine Wahlfreiheit: denn die Wahl zwischen gut ausgestatteten Sonderschulen mit hochqualifiziertem Personal und Regelschulen die sich gerade erst auf den Weg zur Inklusion machen und nur geringe Mittel dazu haben ist keine.
Wenn die angebliche Wahlfreiheit aber zu einem Leitprinzip der Schulplanung wird, so müssen wir fragen: Wird hier die Grenze der Inklusion unter dem Vorwand der Fürsorge einfach ausgedehnt, wird hier nicht eine Restgröße behinderter Kinder als letztlich „inklusionsunfähig“ beschrieben? Wird ihr Defizit proklamiert, weil sie zu teuer für angemessene Unterstützung im Regelschulbetrieb sind? Wird also die Sonderschule endgültig zur Restschule? Oder schaffen wir den Übergang zu inklusiven Schulen mit einer hochstehenden Unterstützung für die individuellen Bedarfe aller SchülerInnen?

Verordnung zur Differenz

Seit der französischen Revolution, in deren Gefolge die Gleichheit der Menschen zum Recht erhoben wurde, haben die modernen Staaten Prozesse der Ausgrenzung und Integration festgeschrieben.
Dem Postulat der Gleichheit folgt die Aussonderung derer, die weniger gleich sind, deren Differenz entweder kulturell oder von Natur aus verursacht scheint. Die Befremdlichkeit liegt in dieser Sichtweise im Defizit des Einzelnen und nicht in der sozialen Ausgrenzung. Das ist die Stunde der Medizin, der Psychopathologie und der Sonderpädagogik.
Noch heute werden Menschen mit Beeinträchtigungen ständig in Kategorien eingeteilt: Sonderpädagogischer Förderbedarf, Einstufungsverordnung, Pflegegeld, Invaliditätspension, Individueller Hilfebedarf – teilweise mit widersprüchlichen Ergebnissen. Menschen werden hier nicht als Ganzes, sondern fragmentiert, nicht als fähig, sondern in einer veralteten medizinischen Logik als begrenzt beschrieben. Hier fordert die Lebenshilfe dringend eine einheitliche, prozesshafte Neuordnung für einen Unterstützungsbedarf im Sinne des sozialen Modells von Behinderung, gerade auch um ausgrenzende Typisierungen als „behindert“ zu vermeiden.

Werkstätten für Inklusionsunfähige?

Zur Funktionslogik moderner Gesellschaften gehört die Leistungsfähigkeit. Wer nicht mit vielen Zertifikaten, Kompetenzen, Mobilität und Kommunikationsfähigkeit ausgestattet ist, hat wenige Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenzahlen behinderter Menschen zeigen dies eindrucksvoll.
Verschärft wird dies wiederum bei Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Viele von ihnen gelten als erwerbsunfähig, arbeiten in Werkstätten der Behindertenhilfe für ein Taschengeld ohne eigenständige Sozialversicherung. Zu einem durchlässigen und inklusiven Arbeitsmarkt ist noch ein mehrjähriger Weg.
Nun haben Sozialministerium und Parlament in einem wichtigen Schritt die Rückkehr aus Arbeitsversuchen in die Waisenpension und in die Behindertenhilfe erleichtert. Aber: Selbst wenn wir einen inklusiven Arbeitsmarkt schaffen, droht die Situation, dass die Werkstätten und Tagesstrukturen der Lebenshilfe und ihrer Partnerorganisationen zu Rest-Arbeitsstätten für die „teuren“ weil „schwierigen“ Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen werden.
Auch hier müssen wir achten, dass die Grenzen der Inklusion nicht vorzeitig für diese Gruppe geschlossen werden. „Inklusion light“ ist keine Inklusion sondern Ausgrenzung mit Feigenblatt.

Wir und die anderen

Letztlich erweist sich das Anerkennen von Verschiedenheit daran, dass wir „den Anderen“, „die Andere“ als geistreich, als schön, als wertvoll, begehrenswert, als zur Selbstbestimmung und Selbst-Tätigkeit fähig erleben.
Doch die gesellschaftliche Normalität ist noch immer so, dass behinderte Menschen als unansehnlicher, als weniger fähig, als arm typisiert werden. Jugend-, Schlankheits-, Gesundheits- und Vollkommenheitspostulate tun ihr übriges um jede Abweichung von den Kult-Bildern mit Misstrauen oder bestenfalls Mitleid zu betrachten. Erst wenn behinderte Menschen auch in der öffentlichen Ästhetik als schön wahrgenommen werden, wird Inklusion gelingen.
Inklusion und soziale Teilhabe beziehen sich auf die Überwindung von Ausgrenzungen. Zusätzlich zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sollten wir daher die Gesellschaft und Kultur als Ganze in den Blick nehmen: Wo werden andere als weniger wertvoll, als befremdlich oder gar bedrohlich erachtet? Wo geschieht das systematisch und institutionell, wo liegt es an Einzelnen? Und umgekehrt: Wie werden Kulturen des Willkommen-heißens, der Anerkennung von Verschiedenheit, ja auch der Freundschaft Normalität?

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich