Umschulung auf Förder­schule: UN-Sonderberichterstatter intervenieren

Die Vorgehensweise eines Jugendamtes in Rheinland-Pfalz (Deutschland), gegen den Willen einer Alleinerziehenden und ihrer Tochter eine Umschulung aus einer inklusiven Regelschule in eine Förderschule vorzunehmen, hat über eine Petition zwei UN-Sonderberichterstatter auf den Plan gerufen.

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Den Eingriff in das elterliche Sorgerecht der Alleinerziehenden konnte ein Jugendamt in Rheinland-Pfalz mit der Begründung gerichtlich durchsetzen, dass die Mutter, die auf einer inklusiven Schwerpunktschule statt einer Förderschule bestand, das Kindeswohl ihrer Tochter gefährde.

Mit der Übertragung von Teilen des Sorgerechts auf das Jugendamt verfügte dieses auch gegen den Willen der Schülerin die Überweisung zur Förderschule. (Der Fall ist ausführlich dargestellt worden.)

Verfassungsbeschwerde mit Eilantrag

Die Mutter sah sich veranlasst, im Juni 2020 den Gang nach Karlsruhe anzutreten und zusammen mit ihrer Tochter eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Während der Eilantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Aussetzung des Sorgerechtsentzugs vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wurde, läuft die Beschwerde im Hauptsacheverfahren weiter.

Die Beschwerde will u.a. geklärt wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen Behörden und Gerichte unter Berücksichtigung des Grundgesetzes und der von der Bunderepublik Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention die Annahme einer Kindeswohlgefährdung auf eine Weigerung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung und ihrer sorgeberechtigten Eltern stützen dürfen, die Förderschule zu besuchen.

Die Beschwerde begründet ihre verfassungsrechtliche Bedeutung mit mehreren Verstößen gegen das Grundgesetz. Da ist zum einen Artikel 6, der das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder garantiert.

Da ist Artikel 3 des Deutschen Grundgesetzes, der ein Diskriminierungsverbot gegenüber Menschen mit Behinderungen enthält und durch die UN-Behindertenrechtskonvention verstärkt wird. Zwar habe die Konvention keinen Verfassungsrang, sei aber bei der Auslegung des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verfassungsrechtlich bedeutsam, so die prozessbevollmächtigten Anwälte.

Bedeutung der UN-Sonderberichterstatter

Die Institution der Sonderberichterstatter ist bedeutsam, auch wenn sie keine Rechtssprechungskompetenz haben. Man erinnere sich nur an das Aufsehen, das Vernor Muñoz als ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung durch seinen Deutschlandbesuch 2006 auslösen und auf seine Mission lenken konnte.

Sein Abschlussbericht vor dem UN-Menschenrechtsrat machte international publik, dass das hierarchisch gegliederte deutsche Schulsystem bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen strukturell benachteiligt und von der menschenrechtlichen Erfüllung des Rechts auf Bildung weit entfernt ist.

Sonderberichterstatter sind dem Menschenrechtsrat zugeordnet und werden von diesem für maximal 6 Jahre ernannt. Sie arbeiten ehrenamtlich und sind keine Angestellten der Vereinten Nationen. Sie reagieren nach eigenem Ermessen auf Eingaben von Einzelpersonen, Gruppen, Nichtregierungsorganisationen, die sich mit Verstößen gegen Menschenrechtsnormen an sie wenden.

Nehmen sie sich eines Falls an, der nachvollziehbar und überzeugend begründet ist, dann fordern sie Regierungen schriftlich auf, zu dem von ihnen ausführlich dargelegten Sachverhalt Stellung zu beziehen und darzulegen, was sie unternehmen werden, um den Missstand oder die Verletzung zu beheben. Sie legen in einem Bericht an den Menschenrechtsrat dar, in welcher Angelegenheit und welcher Weise sie tätig geworden sind und welche Erwiderung sie von der Regierung bekommen haben.

Starke Signale an die Bundesregierung

Gleich zwei Sonderberichterstatter teilen die Sorge, dass es sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf inklusive Bildung handelt und haben den Fall zu ihrer Sache gemacht. Es handelt sich um den Sonderberichterstatter für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und den Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung. Das lässt vermuten, dass auch das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde der Klägerinnen noch einmal gründlicher prüfen wird.

Die detaillierte Darstellung des Einzelfalls mündet in drei Aufforderungen der Sonderberichterstatter an die Bundesregierung. Die Bunderegierung möge Stellung beziehen und eventuell zusätzliche Informationen zu dem dargestellten Sachverhalt abgeben.

Sie möge die einzelnen Schritte klären, die dafür Sorge tragen, dass die Schülerin so schnell wie möglich eine inklusive Regelschule an ihrem Wohnort mit der notwendigen individuellen Unterstützung und angemessenen Vorkehrungen besuchen kann.

Sie wird gebeten, Informationen darüber zu beschaffen, wie das Kindeswohl und die Beteiligungsrechte der betroffenen Schülerin, die sich sehr klar für eine inklusive Schule ausgesprochen habe, in dem Prozess, der zu ihrer Überweisung in eine segregierte Förderschule führte, von den Behörden und dem Ergänzungspfleger des Jugendamtes berücksichtigt wurden.

Über den Einzelfall hinaus

Es ist leider kein Einzelfall, dass die elterliche Wahrnehmung des Rechts auf inklusive Bildung als „Kindeswohlgefährdung “ von Behörden und Schulen umgedeutet und damit ausgehebelt wird, wie Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, als Obfrau im Petitionsausschuss bestätigt:

Wenn Schulen sich mit Jugend- oder Sozialämtern zusammentun, kann das ‘Elternwahlrecht‘ vollends zur Makulatur werden. Denn welche ‘Wahl‘ besteht noch, wenn unter dem Deckmantel des Kindeswohls Kinder zu Störfaktoren erklärt werden?

Auch die Bildungspolitik und die Sonderpädagogik konstruieren gerne ein Spannungsverhältnis zwischen inklusiver Bildung und dem Kindeswohl. Damit legitimieren sie den Erhalt des Sonderschulsystems.

Mit der Aufforderung der Sonderberichterstatter an die Bundesregierung, das Verhalten des Jugendamtes zu überprüfen, wird gegenüber all denen, die mit dem Argument des Kindeswohls die Rechte des Kindes auf inklusive Bildung unterlaufen, die „rote Karte“ der Menschen- und Völkerrechtsverletzung gezeigt.

Die Sonderberichterstatter haben eindeutig festgestellt, dass inklusive Bildung dem Kindeswohl entspricht und mit angemessenen Vorkehrungen für den Einzelfall ohne Verzögerung im Sinne von Artikel 24 der UN-BRK umzusetzen ist. Die Erwiderung der Bundesregierung steht noch aus.

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8 Kommentare

  • Roll

  • Es ist schon traurig, dass sich bisher kein Politiker, keine Politikerin aus der Deckung traut und das Problem beim Namen nennt: DISKTIMINIERUNG, und das noch mit Mitteln des „Rechts“-Staates. Für Deutschland einfach BESCHÄMEND!

    • Als Förderschullehrerin muss ich leider sagen, dass die Umsetzung der Inklusion an Regelschulen leider häufig nicht so geschehen kann wie es gut und sinnvoll wäre, denn weder die finanziellen noch die räumlichen und personellen Ressourcen werden in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt.
      Inklusion ist sicherlich ein wichtiges Ziel. Aber nicht als Sparmodell. Wenn Kinder nur sporadisch Unterstützung erhalten können in der Regelschule (2 Stunden wöchentlich pro Förderkind reichen nicht) und auch kein Raum und Personal da ist, um z.B. etwas noch einmal zu erklären (was im Klassenraum stören würde), dann ist die Umsetzung von Inklusion schwierig.
      Bevor ein Kind dann alleine gelassen in der Regelschule nur seine Zeit absitzt und von den anderen Kindern noch gemobbt wird, vor Überforderung verhaltensauffällig wird, kann es sinnvoller sein, das Kind in einer Förderschule zu beschulen – wo der Personalschlüssel besser ist.
      Gut ist das nicht. Inklusion als Sparmodell funktioniert nicht. Die Klassen müssten durchgängig doppelt besetzt sein und auch Differenzierungsräume würden benötigt.

  • Ich finde den Artikel sehr gut, weil in Deutschland Inklusion tatsächlich keine Umsetzung findet. Da ist der Teil „Bildung“ nur ein Bereich von Vielen, der für Eltern von Kinder mit Behinderung, ein ständiger Kampf bedeutet. Tatsächlich fängt der Kampf bei der Geburt an, wenn Eltern um die Bewilligung medizinischer und therapeutischer Hilfsmittel mit der Krankenkasse kämpfen. Es setzt sich fort mit der Suche nach einem Regelkindergartenplatz und der dazugehörigen Bewilligung von Stunden für eine Integrationskraft. Auch hier ist man der Behördenwillkür ausgesetzt, weil oft viel weniger Stunden zur Ermöglichung von Teilhabe für das Kind bewilligt wird, als das Kind benötigt.
    Es geht weiter mit dem Kampf, um einen Platz in einer Regelschule. Auch hier hat man nichts anders zu tun als Kindern, die die geistige Kapazität haben einen Regeschulabschluss mit einer Integrationskraft zu erreichen, Steine in den Weg zu legen. Für mich als Mutter eines Kindes mit Downsyndrom, erweckt es den Eindruck, das Inklusion in Deutschland keine Umsetzung findet. Kinder oder auch Menschen mit Behinderung, sollen nach Möglichkeit im normalen Leben nicht auftauchen und die optimale Förderung die sie benötigen, auch nicht erhalten. So steckt man Kinder mit Behinderung in Förderkindergärten, dann in Förderschulen und am Ende, da man ja mit dem Schulabschluss einer Förderschule auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hat, bleibt ihnen nur ein unterbezahlter Arbeitsplatz in den Behindertenwerkstätten Es gleicht einer Aussortierung von Menschen aus unserer Gesellschaft. Ist das wirklich gelebte Inklusion und Teilhabe??

    • Liebe Frau Al-Bkeer,
      vielen Dank für Ihren Kommentar, den ich sehr gerne gelesen habe. Ich möchte den Artikel von Brigitte Schumann in Vielfalt das Bildungsmagazin veröffentlichen. Ein kostenloses Magazin, das ich für die AWO Mittelrhein herausgebe. https://www.migrationsfachdienst-awo-mittelrhein.de/de/antirassismus-antidiskriminierungsarbeit/vielfalt-das-bildungsmagazin/
      Schwerpunkt der Sommerausgabe ist Diskriminierung in der Schule / Diskriminierung durch die Schule.
      Dürfte ich Ihren Kommentar auch veröffentlichen? Das wäre sehr nett. Oder haben Sie gar Interesse einen eigenen Artikel aus der Sicht der Eltern zum Thema zu schreiben. Ich geben Ihnen meine Telefonnummer und würde mich über eine Rückmeldung freuen.
      Mit freundlichen Grüßen
      Mercedes Pascual Iglesias

  • Ich muss sagen das mir schlecht dabei wird, wenn ich das lese. Denn ich arbeite als Fachkraft für Entwicklungsförderung und Inklusion und fordere dazu auf die Inklusion, von der viele noch nichts wissen umzusetzen. Dabei ist es nicht davon abhängig, ob es durch die Politik verordnet wird, denn Inklusion ist nicht zu verordnen sondern muss gelebt werden. Aber wenn in der Auseinandersetzung auf welche Schule ein Jugendlicher mit Beeinträchtigung gehen darf und kann, schon im Vorfeld die Schulen sich dagegen wehren können. Ist das ganze tolle Gerede seitens der Politik in Bezug auf Inklusion nur dann wichtig wenn es keine Kosten verursacht. Denn Inklusion bedeutet Hilfestellung die auch Finanziell fordert.
    In diesen Fall macht es mich wütend, denn ich arbeite mit Kindern und Eltern in der Kita daran, das die Annahme der Vielfalt der Kinder gelebt werden muss. Ab der Einschulung oder weiterbilden Schulen gibt es dann das Mittel der Kinderwohlgefährdung um ein Auswählen der Schule zu unterbinden? DAS IST EINE NICHT HINZUNEHMENDE ART UND WEISE!
    Pfui sage ich dazu! Sie verraten damit alle Menschen die Inklusion schon leben und Eltern und Kinder unterstützen.

  • Unglaublich! Aber ich denke, sowas kommt sicher auch in Österreich vor.