UNESCO-Weltbildungsbericht: Millionen Kinder mit Behinderungen haben keine Chance auf Schulbildung

Licht für die Welt: Corona-Pandemie zeigt Dringlichkeit für Verbesserungen in den Bildungssystemen

Inklusive Schulklasse in Äthiopien
Gregor Kuntscher

Jedes siebte Kind, das weltweit vom Schulbesuch ausgeschlossen sind, hat eine oder mehrere Behinderungen. Die UNESCO präsentierte am 23. Juni 2020 den Weltbildungsbericht „Inklusion und Bildung: Für alle“, der Defizite und Chancen aufzeigt.

Insgesamt können 258 Millionen Kinder und Heranwachsende nicht zur Schule gehen. Unter ihnen sind knapp 39 Millionen mit einer oder mehreren Behinderungen. Viele Kinder mit Behinderungen, die in die Schule gehen dürfen, stoßen auf Barrieren, fehlendes Verständnis seitens der Lehrerschaft, Ausgrenzung und Gewalt. Dadurch geht sehr viel Potenzial dieser Kinder verloren, was sich auch auf die Volkswirtschaften ganzer Staaten auswirkt.

Der vorliegende Bericht enthält zehn Empfehlungen, wie Regierungen, schulische Einrichtungen und Lehrpersonen zusammenarbeiten müssen, damit Bildung weltweit inklusiv wird.

„Zu lange wurden die Rechte und Potenziale von Mädchen und Buben mit Behinderungen ausgeklammert. Der neue Bericht rückt sie nun ins Zentrum. Die Bildungssysteme aller Länder müssen diese Kinder von der frühen Kindheit an berücksichtigen und in die regulären Schulen inkludieren“, so Nafisa Baboo, Expertin für inklusive Bildung bei Licht für die Welt.

Laut Bericht werden durch die Corona-Pandemie viele Defizite aber auch Chancen sichtbar.

Licht für die Welt fordert Inklusion und Digitalisierungsschub

Konkret fordert Licht für die Welt nun vor allem für die Entwicklungsländer den Ausbau des Internetzugangs und digitaler Lernmöglichkeiten sowie die Versorgung mit Tablets und Laptops. Das würde besonders gehörlosen, blinden und sehbehinderten Kindern das Lernen erleichtern. Dies ist eine Erkenntnis aus den Schulschließungen der letzten Monate.

Es braucht aber nicht nur einen Digitalisierungsschub sondern in vielen Entwicklungsländern auch eine Verbesserung der Bildungssysteme und eine viel höhere Finanzierung des inklusiven Schulwesens. Inklusion soll in den Gesetzen aller Länder verankert werden.

„Die Umsetzung der inklusiven Regeln ist eine große Herausforderung in den Ländern, in denen diese bereits gesetzlich verankert sind“, so Baboo. Gemeinden und Eltern sollen mit den Schulen enger zusammenarbeiten und LehrerInnen so ausgebildet werden, dass sie allen Kindern – mit und ohne Behinderungen – die Lerninhalte beibringen können. Ausbildung und Umgang mit Gebärdensprache und Brailleschrift muss gefördert werden.

„Inklusion beginnt schon ab der Geburt. Darum muss auch die frühkindliche Bildung, besonders bei Mädchen, ausgebaut werden“, so Baboo.

Die Corona-Krise zeigt große Defizite beim Online-Lernen auf

Durch die COVID-19-Pandemie sind weltweit 1,6 Milliarden Kinder und Jugendliche betroffen. Lernende mit Behinderungen wurden aber bei den Online-Unterrichtsmodellen nicht genügend berücksichtigt. 55 Prozent der Länder mit niedrigem Einkommen haben sich zwar für Online-Fernunterricht im Primar- und Sekundarbereich entschieden, aber nur zwölf Prozent der Haushalte dieser Länder haben überhaupt einen Internetzugang.

In 40 Prozent aller Länder mit mittlerem oder niedrigem Einkommen werden benachteiligte Kinder während der Schulschließungen im Zuge des Lockdowns nicht unterstützt. Der Bericht fordert daher, dass bei der Wiederöffnung der Schulen diejenigen Kinder besonders berücksichtigt werden, die bisher ausgegrenzt waren, vor allem Kinder mit Behinderungen.

„Die Coronakrise und die Schließung der Schulen decken die Defizite in den Bildungssystemen der Länder auf. Diese Krise ist aber auch eine Chance, weil wir jetzt noch genauer sehen, wo die Fehler liegen und wo Regierungen, Bildungseinrichtungen und Behindertenorganisationen zukünftig besser zusammenarbeiten müssen. Durch den Einsatz digitaler Techniken würde sich außerdem die Qualität des Unterrichts und das Engagement der Eltern verbessern“, so Nafisa Baboo.

Bericht warnt vor Ausgrenzung und mangelnder Datenlage

Die Gesetze von einem Viertel der untersuchten Länder drängen Kinder mit Behinderungen in gesonderte Bildungseinrichtungen statt in die regulären Schulen. Auch die Meinung vieler Eltern ist, dass Kinder mit Behinderungen in „Sonderschulen“ besser aufgehoben wären. So denkt etwa noch immer ein Siebtel aller Eltern in Deutschland, dass Kinder mit Behinderungen andere Kinder beim Lernerfolg beeinträchtigen würden.

Ein Viertel aller Länder erwähnen den Begriff „inklusive Bildung“ nicht einmal in ihren Gesetzen. Nur 41 Länder weltweit haben die Gebärdensprache anerkannt. Ein großes Manko, so der UN-Bericht, ist auch die unzureichende Datenlage über die Zahl der Kinder mit Behinderungen.

Die Statistiken werden oft nur von Kindern erhoben, die bereits eingeschult wurden, während Kinder, die erst gar nicht zur Schule gehen, nicht erfasst sind.

Afrika hat größere Chancen bei der Umsetzung von Inklusion als der reiche Norden

Viele Länder südlich der Sahara verzeichnen große Fortschritte bei der Inklusion von SchülerInnen mit Behinderungen in die regulären Schulen. Da die Bildungssysteme erst im Aufbau sind, ist Inklusion dort sogar leichter umzusetzen als in den Bildungssystemen der reichen Industrieländer, die eher exklusive Bildungssysteme eingerichtet haben.

In Burkina Faso etwa wurde 2010 ein Gesetz verabschiedet, das Inklusion auf allen Bildungsebenen vorsieht. Das westafrikanische Land geht mit gutem Beispiel voran. Auch in Äthiopien lernen Kinder mit Behinderungen in inklusiven Schulen.

Aber ein Viertel der Länder südlich der Sahara schreiben noch immer gesetzlich vor, dass diese Kinder in Sondereinrichtungen lernen müssen. Immerhin gibt es in 83 Prozent dieser Länder bereits Gesetze, die auf Menschen mit Behinderungen Rücksicht nehmen.

Erster Weltbildungsbericht mit Fokus auf Inklusion

Der wegen der Pandemie am 23. Juni 2020 virtuell vorgestellte Weltbildungsbericht beurteilt den Fortschritt zum vierten nachhaltigen UN-Entwicklungsziel (SDG), nach dem bis 2030 alle Menschen ein Recht auf inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie lebenslanges Lernen haben. Es ist der vierte Jahresbericht dieser Art und er analysiert 209 Länder.

Zum ersten Mal konzentriert sich der Weltbildungsbericht auf die Inklusion von benachteiligten Kindern. Die internationale Direktorin für Inklusive Bildung von Licht für die Welt, Nafisa Baboo, hat an dem vorliegenden Bericht als Beraterin aktiv mitgearbeitet und war auch in der Lenkungsgruppe vertreten.

Link zum UNESCO-Weltbildungsbericht

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Ein Kommentar

  • Ein sehr interessanter Bericht lesenswert. Wenn wir diese Ideen umsetzen können wir die Armut minimieren und den Flüchtlingsstrom reduzieren.
    Erhöhen wir die Entwicklungshilfe und finanzieren wir die Bildung dieser Menschen.