Verena Nussbaum: Nachholbedarf gibt es leider derzeit noch in sehr vielen Bereichen

Ausführliches Interview mit Verena Nussbaum, SPÖ-Behindertensprecherin im Parlament. Ihr ist wichtig, "dass alle Menschen, ganz abgesehen von ihren persönlichen Voraussetzungen, ein Teil unserer Gesellschaft sind".

Verena Nussbaum
Parlamentsdirektion / PHOTO SIMONIS

BIZEPS: Frau Nussbaum, Sie sind seit 12. November 2019 Sprecherin für Menschen mit Behinderungen. Welche Vorerfahrungen bringen Sie zu diesem Bereich mit?

Verena Nussbaum: Eines meiner Kernthemen war ja schon immer auch der Gesundheitsbereich, wo Menschen mit Behinderungen natürlich auch eine große Rolle spielen.

Darüber hinaus bin ich als Vizepräsidentin des Vereins „Jugend am Werk Steiermark“ in stetigem und regem Kontakt und Austausch mit betroffenen Personen.

BIZEPS: Schon 2018 haben Sie einige Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen vorgeschlagen, wie zum Beispiel einen Inklusionsfonds, inklusive Bildung und Barrierefreiheit als Pflichtfach im Architekturstudium. Was muss passieren, damit diese Dinge umgesetzt werden können?

Verena Nussbaum: Ich werde natürlich weiterhin für die Umsetzung dieser Maßnahmen kämpfen und nicht lockerlassen. Zu Beginn einer neuen Legislaturperiode ist es aber immer wichtig, die Gespräche mit den jeweiligen Bereichssprechern und -sprecherinnen der anderen Parteien zu suchen und so gemeinsame Lösungen für die Umsetzung von Maßnahmen zu finden.

Verena Nussbaum: Die vollständige Inklusion scheitert an ganz alltäglichen Dingen

BIZEPS: Wo sehen Sie außerdem noch Nachholbedarf, was Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen betrifft?

Verena Nussbaum: Nachholbedarf gibt es leider derzeit noch in sehr vielen Bereichen. Das beginnt bei den alltäglichen Hürden, vor die Menschen mit Behinderungen gestellt werden, wenn sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen, wenn sie eine neue Wohnung suchen, usw. Die vollständige Inklusion scheitert also schon an ganz alltäglichen Dingen, über die sich viele Menschen nie Gedanken machen müssen.

Was mir als Gewerkschafterin außerdem völlig unverständlich ist, ist die Situation in den Einrichtungen der Tagesstruktur. Da es sich ja nach der Rechtsprechung hier nicht um Arbeitsverhältnisse handelt, werden alle arbeitsrechtlichen Ansprüche ausgeschaltet. Hier braucht es ganz klar die Absicherung der Menschen durch einen angemessenen Lohn und die eigenständige Kranken- und Pensionsversicherung der Beschäftigten.

BIZEPS: Welche Ziele möchten Sie während Ihrer Zeit als Behindertensprecherin umsetzen?

Verena Nussbaum: Als SPÖ haben wir natürlich einen umfassenden Forderungskatalog im Bereich für Menschen mit Behinderungen. Was davon in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden kann, muss in den kommenden Wochen und Monaten mit den anderen Parteien diskutiert und ausgelotet werden. Wichtig ist mir die Bekämpfung der Ungleichbehandlung im Arbeitsbereich.

Nussbaum: Menschen mit Behinderungen endlich gerecht entlohnen

BIZEPS: Sie sind ja auch Kammerrätin der Arbeiterkammer Steiermark. Was sind Ihrer Meinung nach wichtige Schritte, um die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern?

Verena Nussbaum: Das Wichtigste ist in meinen Augen der Abbau von Barrieren und damit auch der Abbau von Vorurteilen. Oftmals werden Menschen mit Behinderungen nur aufgrund ihrer Behinderung nicht eingestellt, auch wenn sie diese in der Ausübung ihres Jobs nicht beeinträchtigen.

Hier braucht es ein Anreizsystem für die Unternehmen, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Vorstellbar wäre hier zum Beispiel eine Eingliederungsbeihilfe und zusätzliche Fördermittel für die ersten 2 Jahre des Beschäftigungsverhältnisses. Für mich ist es auch besonders wichtig, dass Arbeitsplätze, die dem Staat nahestehen als Vorbild vorangehen. Solche Unternehmen sollten die Diversität unserer Gesellschaft auf jeden Fall auch mittels ihrer Beschäftigten widerspiegeln.

Außerdem müssen natürlich auch bei den Betroffenen die Berührungsängste mit der Erwerbstätigkeit abgebaut werden. Durch Arbeitsversuche in unterschiedlichster Weise kann den Menschen mit Behinderungen auch die Angst genommen werden, am Arbeitsmarkt nicht mithalten zu können.

Mir ist in diesem Bereich allerdings auch ein Herzensanliegen, dass Menschen mit Behinderungen endlich gerecht entlohnt werden und nicht für Taschengeld arbeiten gehen müssen, wie das derzeit noch zu einem überwiegenden Teil der Fall ist.

Nussbaum: Die unterschiedlichen Voraussetzungen der Länder sind für mich nicht verhältnismäßig

BIZEPS: Welchen Zugang haben Sie zum Konzept der Persönlichen Assistenz?

Verena Nussbaum: Im Sinne einer richtigen Inklusion finde ich es wichtig, dass alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben können. Es ist wichtig, alle Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fördern und ihnen die notwendigen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen.

Ich verstehe nicht, wieso Persönliche Assistenz derzeit nur im Arbeitsalltag in Anspruch genommen werden kann und nicht auch im Freizeitbereich.

BIZEPS: Gibt es irgendwelche konkreten Pläne Ihrerseits, was Persönliche Assistenz betrifft?

Verena Nussbaum: Ganz wichtig ist mir bei der Persönlichen Assistenz natürlich die Vereinheitlichung der Regelungen für die Persönliche Assistenz im Freizeitbereich. Die unterschiedlichen Voraussetzungen der Länder sind für mich nicht verhältnismäßig und führen zu einer Ungleichbehandlung der Betroffenen in den verschiedenen Bundesländern.

Es kann nicht sein, dass es Bundesländer gibt, die schon relativ zufriedenstellende Angebote anbieten, während diese Angebote in anderen Bundesländern eigentlich kaum existieren.

Um in ganz Österreich nach einheitlichen Kriterien und einem gleichen Leistungsniveau Persönliche Assistenz in Beschäftigung und Freizeit sicherzustellen und damit auch die vollwertige Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an unserer Gesellschaft zu ermöglichen, braucht es eine bundesgesetzliche Regelung für eine Fördermöglichkeit für alle Lebensbereiche.

Ein Inklusionsfonds für die Finanzierung von Notwendigkeiten für die vollständige Inklusion über die Grenzen der Gebietskörperschaften hinweg könnte hier eine essentielle Voraussetzung darstellen.

Von der Schule für alle profitiert die Gesellschaft

BIZEPS: In einer Presseaussendung im Jahr 2018 kritisierten Sie den Plan der schwarz-blauen Regierung, die Sonderschulen weiter auszubauen. Erhoffen Sie sich diesbezüglich von einer neuen Regierung mehr?

Verena Nussbaum: Da die Regierungsverhandlungen derzeit noch laufen und noch keine konkreten Positionen veröffentlicht wurden, kann ich mich dazu leider nicht äußern. Fest steht allerdings, dass ich diese Forderung natürlich auch an die kommende Regierung stellen werde!

Ich bin zutiefst überzeugt, dass nur durch eine Schule für alle und jeden eine diverse Gesellschaft, die von den unterschiedlichen Voraussetzungen der Menschen profitiert und auch davon lernt, gelebt werden kann.

BIZEPS: Wie sehen Sie die Rolle der Interessenvertretungen in der Behindertenpolitik?

Verena Nussbaum: Ich sehe Interessenvertretungen in allen Bereichen als wichtiges Instrument, um die Menschen bzw. Mitglieder in ihren Interessen zu stärken und ihnen eine laute Stimme zu verschaffen. Durch die Profitorientierung unserer Gesellschaft würden viele Gruppen ohne die starken Interessenvertretungen in Vergessenheit geraten bzw. nicht gehört werden.

BIZEPS: Wie definieren Sie persönlich Inklusion?

Verena Nussbaum: Für mich bedeutet Inklusion, dass alle Menschen, ganz abgesehen von ihren persönlichen Voraussetzungen, ein Teil unserer Gesellschaft sind. Jeder Mensch soll so akzeptiert werden, wie er oder sie ist. Eine inklusive Gesellschaft profitiert meiner Meinung nach von den verschiedenen Ideen der unterschiedlichsten Menschen.

BIZEPS: Wir danken für das ausführliche Interview.

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