VfGH: Es ist verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten

Straftatbestand der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ verstößt gegen Recht auf Selbstbestimmung

Verfassungsgerichtshof Österreich
Verfassungsgerichtshof

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat auf Antrag mehrerer Betroffener, darunter zweier Schwerkranker, jene Bestimmung aufgehoben, die die Hilfeleistung zum Selbstmord unter Strafe stellt:

Die Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ in § 78 des Strafgesetzbuches ist verfassungswidrig. Sie verstößt gegen das Recht auf Selbstbestimmung, weil dieser Tatbestand jede Art der Hilfeleistung unter allen Umständen verbietet.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft.

Der erste Tatbestand des § 78 StGB („Verleiten“ zum Suizid) ist hingegen nicht verfassungswidrig.

Die Anfechtung des § 77 StGB (Tötung auf Verlangen) erwies sich als unzulässig und wurde daher zurückgewiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

  • Aus mehreren grundrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere aus dem Recht auf Privatleben, dem Recht auf Leben und dem Gleichheitsgrundsatz, ist das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung ableitbar.
  • Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst das Recht auf die Gestaltung des Lebens ebenso wie das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen.
  • Das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten kann einen besonders intensiven Eingriff in das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung darstellen.
  • Beruht die Entscheidung zur Selbsttötung auf der freien Selbstbestimmung des Betroffenen, so ist dies vom Gesetzgeber zu respektieren.
  • Aus grundrechtlicher Sicht macht es keinen Unterschied, ob der Patient im Rahmen seiner Behandlungshoheit oder der Patientenverfügung in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes lebensverlängernde oder lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ablehnt oder ob ein Suizident mit Hilfe eines Dritten in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes sein Leben beenden will. Entscheidend ist vielmehr in jedem Fall, dass die jeweilige Entscheidung auf der Grundlage einer freien Selbstbestimmung getroffen wird.
  • Nach Auffassung des VfGH steht es zu dem sowohl in der verfassungsrechtlich begründeten Behandlungshoheit als auch in § 49a Abs. 2 Ärztegesetz 1998 (hinsichtlich der Einhaltung der Patientenverfügung) zum Ausdruck kommenden Stellenwert der freien Selbstbestimmung im Widerspruch, dass § 78 zweiter Tatbestand StGB jegliche Hilfe bei der Selbsttötung verbietet.
  • Wenn einerseits der Patient darüber entscheiden kann, ob sein Leben durch eine medizinische Behandlung gerettet oder verlängert wird, und andererseits durch § 49a Ärztegesetz 1998 sogar das vorzeitige Ableben eines Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung in Kauf genommen wird, ist es nicht gerechtfertigt, dem Sterbewilligen die Hilfe durch einen Dritten bei einer Selbsttötung zu verbieten und derart das Recht auf Selbstbestimmung ausnahmslos zu verneinen.
  • Der Verfassungsgerichtshof übersieht nicht, dass die freie Selbstbestimmung auch durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst wird. Dementsprechend hat der Gesetzgeber zur Verhinderung von Missbrauch Maßnahmen vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.
  • Jemand anderen zur Selbsttötung zu verleiten, bleibt strafbar (erster Tatbestand des § 78 StGB). Die Entscheidung, sich unter Mitwirkung eines Dritten zu töten, ist nur dann grundrechtlich geschützt, wenn sie, wie bereits ausgeführt, frei und unbeeinflusst getroffen wird. Diese Bedingung ist von vorneherein nicht erfüllt (Tatbestand des „Verleitens“).
  • Die Anfechtung von § 77 StGB (Tötung auf Verlangen) ist nicht zulässig. Im Falle einer Aufhebung wäre die Tötung eines Menschen auf dessen Verlangen als Mord oder Totschlag zu ahnden. Mit der Aufhebung wären daher die Bedenken der Antragsteller gegen § 77 StGB nicht ausgeräumt; insofern war der Anfechtungsumfang zu eng.

Anmerkungen: Derzeitige Rechtslage Strafgesetzbuch

  • § 77 Tötung auf Verlangen
    Wer einen anderen auf dessen ernstliches und eindringliches Verlangen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
  • § 78 Mitwirkung am Selbstmord
    Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.

Siehe: ORF, DerStandard, Verkündigung des VfGH, Änderung im RIS

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3 Kommentare

  • Ich habe Sorge, dass es zu einem Dammbruch kommt und wir Menschen mit Behinderung unter Druck kommen, letztlich der Allgemeinheit nicht zur Last zu fallen.
    Euthanasie hatten wir ja schon mal. In den Ländern, wo es Tötung auf Verlangen gibt, hat sich der davon betroffene Personenkreis immer mehr vergrößert, bis hin zu Kindern und demenzkranken Personen. Eine Freundin, die sterbende Menschen begleitet, hat mir gesagt: „Es ist wichtig, dass jeder die Melodie seines Lebens zu Ende spielen kann. Auch in den letzten Stunden kann noch Wandlung und Versöhnung geschehen.“
    Unter dem Deckmantel der Humanität und Selbstbestimmung sollte sich nicht eine menschenverachtende Selektions-Ideologie verstecken!

  • Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Dass die Kirche dagegen ist, ist meistens ein gutes Zeichen, die war ja nicht mal gegen die Nazis. Über die Nächstenliebe in deren Pflegeeinrichtungen wollen wir großzügig den Mantel des Schweigens ausbreiten. Je mehr Licht man in die Kirchengeschichte bringt, desto dunkler wird es.

    • Genau Manuel, so ist es – Wahre Worte.