Viel Feuer, kein Mitleid

Angenehm diesiges Licht erfüllt die Morgenstunden auf den engen Straßen im Zentrum Londons. Rote Doppeldeckerbusse umfahren bedächtig die engen Kurven. Bericht von Gabriel Müller aus London.

Läufer aus Äthiopien bei den Paralympics 2012
Licht für die Welt

An jeder Ecke Frauen und Männer mit rosaroten Warnwesten, die auf hilflos suchende Menschen zugehen, die sich anhand bunter Verkehrspläne den Weg ins derzeitige Herz Londons suchen: Stratfort International, wo das ausverkaufte Olympische Stadion die 80.000 Menschen fasst, die mit ihrem Applaus, ihren wilden Anfeuerungsrufen und der überschwappenden „Welle“ quer durch alle Sitzplatzränge die behinderten Sportlerinnen und Sportler aus aller Welt zu neuen Bestzeiten und Rekorden tragen wollen.

Am Weg dahin sind die Titelseiten sämtlicher Zeitungen gefüllt mit den spektakulärsten Aufnahmen aus den paralympischen Spielen. Wohlgemerkt, die Titelseiten. Es scheint, als hätten die 14. Sommer-Paralympics der Weltgeschichte erstmals geschafft, was zuvor im Reich der Träume angesiedelt war: Volle Anerkennung der Spitzenleistungen entsprechend der körperlichen Voraussetzungen der 4.280 Sportler mit Behinderungen.

Kein gnädiges, nachsichtiges Würdigen rührender Szenen in den einzelnen Bewerben. Nicht nur Kurznotizen über die eine oder andere Medaille in kaum beachteten hinteren Zeitungsteilen und schwachen Sendezeiten.

Dass Tausende Zuschauer auf den Tribünen wie auf Knopfdruck in ihren Jacken nach Taschentüchern kramen, als die blinde brasilianische Sprinterin Terezinha Guilhermina nach ihrem Sieg über die 100 Meter aufgeregt an ihrem hochgewachsenen Führungsläufer hochspringt, immer wieder, und ihm ihre bunte Augenmaske über die Augen legt, als wollte sie sagen: „Ich kann sehen -in diesem Augenblick – tausende applaudierende Hände lassen mich fühlen, lassen mich sehen wie schön diese Welt ist, du aber musst in diesem Augenblick meine Augenmaske, meine Blindheit tragen!“, das beschreibt vielmehr die vielen persönlichen Geschichten, die jahrelang im Hintergrund dieses Rampenlichts standen.

Neben vielen angeborenen Behinderungen wie Dysmelie oder Hemiparese sind ein großer Teil der Sportlerinnen und Sportler bei den Paralympics gezeichnet von schweren Unfällen und Krankheiten, die viele von ihnen aus der geradlinigen Lebensbahn geworfen haben. So auch der 24-jährige äthiopische Spitzenläufer Wondiye Fikre Indelbu, der als Kind unglücklich auf eine Handgranate stieß und so seinen rechten Unterarm und sein rechtes Augenlicht verlor, nachdem er nur knapp überlebt hatte.

Das Duell der weltbesten Langstreckenläufer Haile Gebrselassie und Paul Tergat erweckte in Wondiye den Traum vom eigenen Lauferfolg. Gegen viele Widerstände und Vorurteile seines sozialen Umfelds setzte er sich durch und lief, und lief. Die Silbermedaille über die 1.500 Meter in London in der Klasse T46 gibt ihm und über zehn Millionen behinderten Äthiopiern neuen Lebensmut. In einem Land, wo vielerorts der Hunger regiert und behinderte Kinder aus Scham versteckt werden.

Die europäische Hilfsorganisation ‚Licht für die Welt‘ setzt sich ganz bewusst im Rahmen vieler Projekte in Entwicklungsländern dafür ein, Sport als Mittel der Rehabilitation und Inklusion von Menschen mit Behinderungen einzusetzen. Der 19-jährige Läufer Pita Rondao Bulande aus einem solchen Hilfsprojekt war in London der erste Teilnehmer aus Mosambik in der Geschichte der paralympischen Spiele.

2016 in Brasilien sollen bereits viel mehr seiner Landsleute die Chance bekommen, als leuchtende Botschafter für Menschen mit Behinderungen ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit zu treten. Eine Goldmedaille bleibt der sportliche Traum und das persönliche Ziel aller Teilnehmer bei den paralympischen Spielen.

Aber was sie alle wollen, die Spitzensportler in Rollstühlen, an Krücken oder geführt von fremden Händen, hier bei den Paralympcis wie auch sonst im Leben, ist vor allem eines: Viel Feuer, kein Mitleid. London hat gezeigt, wie´s geht. Die Welt staunt.

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