Vielfältige Barrieren an österreichischen Hochschulen

Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention hat Österreich das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderungen bestätigt und sich dazu verpflichtet, dass sie dieses Recht gleichwertig und ohne Diskriminierung innerhalb auf allen Ebenen inklusiven Bildungssystem wahrnehmen können.

Der Haupteingang zur Akademie der bildenden Künste. Viele Stufen führen hinauf. Am unteren Ende steht ein leerer Elektrorollstuhl, davor versucht Philipp Muerling sich die Stufen hinauf zu ziehen. Er zieht sich am Metallhandlauf die Stufen hinauf und ist auf der dritten von 14 Stufen.
BIZEPS / Eva Kosinar

Barrieren an der Akademie der Bildenden Künste: Phillipp Muerling verlässt seinen Rollstuhl, legt sich zu Füßen der kalten Betontreppe der Wiener Kunstakademie und versucht sich mühsam in einer Art Liegeposition entlang des Geländers hochzuhangeln, nur um erneut die Unmöglichkeit des Vorhabens zu demonstrieren.

Mit dieser Performance will der einzige und erste Studierende im Rollstuhl in der 300-jährigen Geschichte der Kunstakademie deren fehlende Barrierefreiheit aufzeigen. Trotz kürzlich erfolgter Renovierungen des altehrwürdigen Gebäudes ist der Haupteingang nur durch die Treppen und somit u.a. nicht für Phillipp Muerling erreichbar.

Als Grund für die Aufrechterhaltung dieser Barriere wird der Denkmalschutz angegeben (für mehr zum Denkmalschutz: siehe Denkmalschutz barrierefrei – eine Annäherung von Barbara Sima-Ruml in OIB aktuell 2022 (1), – Leseprobe).

Deshalb muss der Kunststudent im Alltag einen umständlichen Nebenweg über Kopfsteinpflaster, automatische Türen und eine Rampe bestreiten. Wobei sein Rollstuhl öfter in den Bodenrillen stecken bleibt und auch der Türöffner nicht immer den gewünschten Dienst erweist. Mit der täglichen Wiederholung der Performance fordert er die Kunstakademie zum Handeln und zum Beenden der Benachteiligung auf: „Entweder wird mein Körper brechen oder das Rektorat“, so der Künstler lachend in einem „Kultur Heute“ Video.

Dabei ist Phillipp Muerling aber bei weitem nicht der einzige Mensch mit Behinderungen, der im Universitätsalltag ständig gegen Barrieren ankämpfen muss.

Die Studierenden-Sozialerhebung 2019 zählt 31.900 Studierende mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen in Österreich. Das ergibt 12,2 % (14 % bei Frauen, 11 % bei Männern) aller Studierenden. Die häufigsten Beeinträchtigungen sind psychische Erkrankungen (5 % aller Studierenden) und chronisch-somatische Krankheiten (3,2 %).

Während der Anteil der Studierenden mit psychischen Belastungen in Vergleich zu 2012 um 1,2 Prozentpunkte stieg, sank derjenige von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sowie Seh-, Hör- und Mehrfachbeeinträchtigungen im selben Zeitraum.

Dokumentierte Barrieren für österreichische Studierende

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat Österreich das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderungen bestätigt und sich dazu verpflichtet, dass sie dieses Recht gleichwertig und ohne Diskriminierung innerhalb auf allen Ebenen inklusiven Bildungssystem wahrnehmen können: 

Um dieses Recht [auf Bildung von Menschen mit Behinderungen] ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen (UN-BRK, 24 (1))

In der Praxis haben Studierende mit Behinderungen jedoch tagtäglich mit Hindernissen und widrigen Umständen zu kämpfen: z.B. untauglichen Straßenbahnhaltestellen, nicht ausreichend barrierefreien Bibliotheken oder Studienmaterialien sowie Aufzügen, die entweder zu klein oder wie z.B. Treppenlifte sehr unpraktisch oder schlecht gewartet und öfter defekt sind.

Zudem sind Aufzüge oft für schwere E-Rollis nicht geeignet. Auch emotionale und verhaltensbezogene Barriere auf Seiten der Kommiliton:innen, der Dozent:innen oder der Verwaltung erschweren das Studium mit Behinderung.

Diese Benachteiligung wirkt sich auch auf den Studienerfolg aus. In der Studierenden Sozialerhebung 2019 stuften die Befragten mit Behinderungen ihre Studienleistung häufiger als etwas oder viel schlechter als ihre Peers ohne Behinderungen ein. Zudem zeigt der Bericht, dass diese Gruppe am meisten von finanziellen Notlagen betroffen ist: So gaben 36 % der Studierenden mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen an, (sehr) starke finanzielle Schwierigkeiten zu haben.

Im Prüfbericht „Barrierefreies Arbeiten und Studieren an Universitäten“ des Rechnungshofes von 2022 wurde die Situation an zwei Hochschulen: TU-Graz sowie BOKU Wien genauer evaluiert und zahlreiche Missstände aufgezeigt. Zwar wurden in beiden Universitäten Maßnahmen zur Barrierefreiheit beschlossen, doch wurde nicht alles umgesetzt und bestehende Hilfen wie z.B. das taktile Leitsystem der Uni Graz als untauglich kritisiert.

Vorhandene Hilfs- und Unterstützungsleistungen werden zu wenig kommuniziert und sind deshalb vielen Anspruchsberechtigten unbekannt. Auch wird bemängelt, dass das Thema Behinderung sowohl in Informationsmaterialien für (potentielle) Studierende als auch im Weiterbildungsangebot für das Lehrpersonals viel zu wenig präsent ist. Deshalb soll das Thema und vorhandene Hilfen stärker publik gemacht und auch in der Weiterbildung der Lehrenden mehr vorkommen, u.a. in der Form von Ausbildungen zur Erstellung barrierefreier Dokumente.

Schließlich wird auch eine Vereinheitlichung des Zugangs zu adaptierten Prüfungsmodalitäten gefordert. Gemäß dem Bericht muss es ausreichen, eine fachärztlich bestätigte Funktionsbeeinträchtigung vorweisen zu können und es soll nicht mehr nach einer diagnostizierten Krankheit oder „Schädigung“ gefragt werden dürfen.

Uni-Jobs für Menschen mit Behinderungen

Die vom Rechnungshof untersuchten Missstände betrafen nicht nur Studierende, sondern auch das Universitätspersonal. Laut Behinderteneinstellungsgesetz ist auf je 25 Bedienstete mindestens eine „begünstigte behinderte“ Person zu beschäftigen. Wenn ein Dienstgeber diese Verpflichtung nicht erfüllt, muss er eine Ausgleichstaxe zahlen.

Im Dezember 2020 hatte keine einzige Universität ihre Einstellungspflicht vollständig erfüllt. Nur 980 (44 %) der 2.216 Pflichtstellen waren mit Menschen mit Behinderungen besetzt. Die Universitäten hatten daher im Jahr 2020 laut Rechnungshofbericht– wegen Nichterfüllung der Vorgaben des Behinderteneinstellungsgesetzes – ca. 5,33 Mio. EUR an Ausgleichszahlungen zu leisten.

Die Einstellungspflicht war auf einer Bandbreite von 90 % und darüber (Universitäten Graz und Klagenfurt) bis weniger als einem Drittel (sechs Universitäten) erfüllt. Bei nur 7 von 22 Universitäten liegt sie über 50 % und im Durschnitt bei 44 %.

Dieses Versagen geeignete Menschen mit Behinderungen lukrieren zu können bedeutet nicht nur eine finanzielle Einbuße, sondern auch, wie der Rechnungshofbericht an vielen Stellen anmahnt, dass die höheren Bildungsanstalten damit ihrer sozialen Vorbildfunktion nicht nachkommen. Durch Inklusion auf allen Ebenen im öffentlich finanzierten Bereich könnten Impulse an die breite Gesellschaft und die Privatwirtschaft gesendet und das Potenzial von Menschen mit Behinderungen aufgezeigt werden.

Besonders krass ist der Missstand im wissenschaftlichen Personal. Dies ist besonders bedauernswert, da die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen hinter Hörsaal-Rednerpulten eine wichtige Signalwirkung an Studierende und andere Universitätsbedienstete mit und ohne Behinderungen ist. Der Rechnungshof forderte einen Erfahrungsaustausch von Best-Practices in der universitären Personalpolitik.

So wurde unter anderem kritisiert, dass im Untersuchungszeitraum weder die TU Graz noch die BOKU Wien Ausschreibungen auf Plattformen, die sich besonders an Menschen mit Behinderungen richten, veröffentlicht hat. Am 2019 lancierten Projekt PromoLi, welches Dissertationsstellen für Menschen mit Behinderungen fördert, nahmen nur neun österreichische Universitäten teil.

Weitere Karriereförderungsprogramme für Menschen mit Behinderungen konnte der Rechnungshof bei den beiden Hochschulen nicht feststellen, was kritisiert wurde.

Barrieren für Wissenschaftler:innen mit Behinderungen

Neben der Einstellungspolitik können zumindest beim wissenschaftlichen Personal jedoch auch Barrieren für bereits tätige Wissenschaftler:innen mit Behinderungen für die schlechte Quote mitverantwortlich sein, insofern sie diese Tätigkeit unattraktiv oder gar unmöglich zu bewältigen machen.

Diesen Barrieren geht der Rechnungshofbericht jedoch nur in geringem Umfang nach. Es wurde nur ausgeführt, dass im Betriebsrat beider Universitäten eine Behinderungsvertrauensperson vorhanden ist und löblich erwähnt, dass die BOKU Wien zusätzlich eine Stabstelle zur Betreuung von „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ eingerichtet hat, die 2021 erweitert wurde zur “Koordinationsstelle für Gleichstellung, Diversität und Behinderung.“

Um mehr zur Marginalisierung und den multiplen Benachteiligungen, denen Akademiker:innen mit Behinderungen ausgesetzt sind, zu erfahren, muss die Literatur herangezogen werden.

Unter „Ableism in Academia“ hat Nicole Brown (University College London) im internationalen Rahmen Stigmatisierungsfallen und Barrieren dokumentiert. Brown weist darauf hin, dass viele Wissenschaftler:innen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen (wie z.B. psychische Erkrankungen) diese oft nicht offenlegen. Dies bedeutet, dass die obigen Zahlen, das Ausmaß an von Behinderung betroffenen Menschen unterschätzen.

Es findet vielmehr eine Art Kosten-Nutzen-Rechnung der betreffenden Wissenschaftler:innen statt, der zufolge die Angst vor Stigmatisierung und Marginalisierung den versprochenen Nutzen der Offenlegung oft übersteigt. Die Behinderung dieser Menschen erfolgt dann durch ableistische Anforderungen, die zu erfüllen für sie u.a. aufgrund der gegebenen strukturellen Rahmenbedingungen schwerer ist als für ihre Kolleg:innen ohne Beeinträchtigungen.

Uni-Mitarbeiter:innen mit Behinderungen werden oft in Bezug auf ihre akademische Arbeit und auf Kosten ihrer Fachreputation marginalisiert oder von vornhinein auf Behinderung oder Aktivist-in-Sein reduziert. Zudem sei auch der bereits internalisierte Ableismus, vor allem in Bezug auf Anforderungen des akademischen Lebens (Publikationszwang, Lehrverpflichtung, Mobilitätsdruck, administrative Tätigkeiten…) ein großes Problem.

In ihrer prekären Situation fühlten sich viele Wissenschaftler:innen und Lehrende mit Behinderungen deshalb paradoxerweise gleichzeitig „invisible und hypervisible“ (Brown & Ramlackhan 2021, 1232).

Parlamentarische Anfrage

Als Reaktion auf den oben erwähnten Rechnungshofbericht haben Nationalratsabgeordnete am 08.09.2022 die parlamentarische Anfrage „Barrierefreihei an Universitäten gestellt. Die Punkte, zu denen mehr Information vom Ministerium für nachgefragt wird, betreffen:

  • die zeitliche Veränderung der zu zahlenden Ausgleichstaxe der Universitäten,
  • die Weiterbildungsmaßnahmen des Personals in Bezug auf Behinderung
  • eine genaue Aufschlüsselung der Studierenden mit Behinderung
  • die Pädagog:innen-Ausbildung
  • die angebotenen abweichenden Prüfungsmethoden für Menschen mit Behinderungen an den einzelnen Universitäten
  • Die Abschlussquote- und die Drop-Out-Rate von Studierenden mit Behinderungen

Vielleicht können diese Informationen dazu beitragen, die in diesem Blogbeitrag besprochenen Barrieren an österreichischen Hochschulen für Studierende und Mitarbeiter:innen zu verringern.

Dazu gehört, dass es Phillipp Muerling verwehrt wird, wie ein „normaler“ Student den Haupteingang zu nutzen und er sich auf einen umständlichen Nebenweg ins Gebäude schleusen muss, genauso wie die zahlreichen anderen strukturellen und architektonischen Barrieren für Studierende und Universitätsbedienstete, die oben genannt wurden, wie die Tatsache, dass an österreichischen Universitäten nicht einmal die gesetzlich geforderte Anzahl von „begünstigt behinderten“ Menschen eingestellt wird.

Dies ist notwendig, damit die in der UN-Behindertenrechtskonvention verbrieften Rechte auf Bildung und Arbeit wahrgenommen werden können.

Dieser Artikel erschien zuerst im DiStA – Disability Studies Austria.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Die Kommentarfunktion für diesen Artikel ist abgeschalten.

4 Kommentare

  • Ergänzung zur BOKU:
    seit 19 jahren wird ein Mitarbeiter mit Down Syndrom sowohl vom Team als auch von der Stabstelle bestens begleitet. Er wird zu allen gemeinschaftlichen Aktivitäten wie Feiern, Ausflügen.. eingeladen und vom Betriebsrat über anstehende Wahlen , Gesundheitsfürsorge… ausreichend informiert. Best practice.

  • Bei den angeblich vorhandenen Angeboten muss unbedingt geprüft werden, was tatsächlich vorhanden ist. Vieles schreiben sich die Unis gern auf die Fahnen, besonders die Uni Wien.
    Barrierefreie Dokumentenaufbereitung ist ein gutes Beispiel. Völlig unklar, welche Qualifikation hierfür Voraussetzung ist und welche Standards wann zum Einsatz kommen. Über die Unorganisation möchte ich mich an dieser Stelle gar nicht auslassen, sonst steigt mein Blutdruck in bedenkliche Höhen. Im Ergebnis muss nichts kommuniziert werden, wo es faktisch nichts gibt. Und außerdem sind sie schon mit den Wenigen überfordert, die davon wissen.

    • Das ist leider Fakt.
      Wenn man wissenschaftlich so vorgehen würde wie dies bei der Unterstützung behinderter Studierender der Fall ist, gäbe es wohl mehr als nur einen Rechnungshofbericht.