„Von der aufgezwungenen Wohltätigkeit“

Während ich den eindringlichen Argumenten meines Schweizer Freundes und unserer Tischnachbarn zuhöre, versuche ich unbeeindruckt zu bleiben - kühl, ruhig und reserviert.

Susanne Berg
BIZEPS

Sie diskutieren über mich, oder besser gesagt darüber, wer von ihnen meine Würste schneiden darf.

Es ist der Tag nach meinem Vortrag. Ich habe über persönliche Assistenz gesprochen und die schwedische Gesetzgebung beschrieben, ihren rechtsverbindlichen Charakter, die Möglichkeit, direkte Zahlungen empfangen zu können, um damit die Assistenten zu beschäftigen, welche ich für praktische Handgriffe wie Würste zerschneiden brauche.

Meine Tischnachbarin, eine sich in anderen Situationen wohl zu benehmen wissende ältere Dame, verliert die Maske ihrer Höflichkeit in dem Augenblick, als ihr der Zugriff zu meinem Teller verweigert wird. Die aggressive Haltung, die sie ausstrahlt, ist erstaunlich. Sie hält mich offenbar für undankbar – und sie trifft den Nagel auf den Kopf, denn Dankbarkeit gehört nicht zu meinen Stärken. Wahrscheinlich bin ich genauso wenig dankbar, wie ich diese Würste schneiden kann.

Später stoße ich erneut auf die gleiche aggressive Haltung: Im Flugzeug lehne ich die Bemühungen eines Bediensteten ab, welcher mich alleine in den Tragesessel heben möchte. Sie sollen mich zu zweit anheben, es ist eben eine Frage der Sicherheit. Ich verspüre nicht den Drang, mich auf seine Weise zusammenquetschen zu lassen. Er rastet aus und erklärt mir, er habe diese Technik im Krankenhaus erlernt, um „Menschen wie mich“ zu heben. Wütend äußert er sich zu seinem Arbeitskollegen bezüglich meiner Ablehnung seines Services. Mein Deutsch mag schlecht sein, doch seine Worte waren allgemein verständlich.

Ob es das Recht Fremder ist, meine Nahrung zu schneiden und zu zerteilen, oder mir beim Einsteigen in ein Flugzeug zu helfen – dahinter stehen Nächstenliebe und Wohltätigkeit.

Nur die Wohltätigkeit gibt einer Person das Recht, beim Verzehren einer Mahlzeit ungebeten und aufdringlich helfen zu wollen, oder bringt Personal dazu, mit unprofessionellen Handlungen und Entscheidungen die Sicherheit anderer Personen zu gefährden.

Nächstenliebe ist der gesellschaftliche Auftrag, welcher dem einfachen Bürger das Recht gibt, sich uneingeladen einzumischen, wenn völlig fremde Menschen ihr Mittagessen einnehmen, oder auch ganz einfach ihre körperliche Bewegungsfreiheit einzuengen und einzuschränken.

Die Verschiedenheit verleiht ihnen das Recht hierzu! Ungleichheit schafft und produziert Nächstenliebe und Wohltätigkeit. Und Nächstenliebe fördert ungleiche Bürger.

Es ist die ungleiche Position, die Unterdrückung und Diskriminierung, die Haltung des scheinbaren Interesses einerseits, sowie Abschiebung und Wegsperrung in Institutionen bzw. Anstalten andererseits. Die qualitativ begrenzten und geringen Leistungen der staatlichen Versorgung, beschränkt in der Zeit, limitiert in Art und Weise. Weiters die politisch entschiedene, bürokratisch geförderte Unfähigkeit zum Handeln und Entscheiden. Das sind die wahren Gründe und Ursachen der Nächstenliebe und Wohltätigkeit!

Die behinderten Menschen in der Schweiz verloren gerade die Volksabstimmung für eine Verfassungsänderung, welche ihnen barrierefreien Zugang rechtlich garantieren sollte. Kein Gesetz garantiert ihnen Direktzahlungen zur Finanzierung der persönlichen Assistenz. Der Großteil des Schweizer Sozialbudgets fließt in Anstalten und Pflegeheime, wodurch sie gezwungen werden, dort zu leben. Und an jeder Straßenecke in Zürich befindet sich eine weitere Bank.

An einer Statue in der Bahnhofstraße vorbeigehend, erfahre ich, dass sie den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi darstellt, welcher folgenden Ausspruch prägte: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade“.

Wie recht er doch hat!

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