Wie stereotype Darstellungen auch 2021 das Bild von Autismus prägen. Ein Kommentar.

1988 erschien der Oscar preisgekrönte Film Rain Man. Darin geht es um die ungleichen Brüder Raymond und Charlie. Charlie ist ein aalglatter und selbstverliebter Geschäftsmann, der sich plötzlich um seinen älteren autistischen Bruder kümmern muss. Durch die neue Verantwortung wird der zunächst widerwillige Charlie zu einem anderen Menschen.
Rain Man war mein erster Kontakt mit dem Thema Autismus. Ich sah ihn, als ich noch sehr jung war und er beeinflusste mein Bild von autistischen Menschen.
Durch den Autismus schien Raymond beeindruckende Fähigkeiten zu haben, wie schwierige Rechenaufgaben zu lösen, oder auf einen Blick erkennen, wie viele Zahnstocher in einer Packung sind. Sozial wirkte er dagegen hilflos wie ein Kind. In Stresssituationen zeigte er stereotype Bewegungsmuster und reagierte überfordert, wenn seine Routine unterbrochen wurde.
Was ich damals nicht wusste, der Film stellt eigentlich einen Mann mit dem sogenannten Savant-Syndrom dar. Das sind Menschen, die außergewöhnliche Talente in Teilbereichen haben. Oft wird es auch als Inselbegabung bezeichnet. In manchen filmischen Darstellungen von Autisten werden Autismus und Savant-Syndrom fälschlicherweise gleichgesetzt.
Ein weiteres Beispiel ist Shaun Murphy aus der Serie The Good Doctor. Autisten können eine Inselbegabung aufweisen, müssen es aber nicht. Auch kann das Savant-Syndrom mit anderen kognitiven Behinderungen einhergehen.
Rain Man prägte mein Bild von Menschen im autistischen Spektrum
Mein Fazit damals also: Autistische Menschen sind Genies, die sich im Alltag nicht zurechtfinden. Dass das der Blick Nichtbehinderter auf die autistische Community ist, dass Autismus eine viel größere Bandbreite hat und nicht alle eine Inselbegabung aufweisen, war mir damals nicht bewusst.
Auch habe ich damals nicht hinterfragt, dass Raymond von dem nicht autistischen Schauspieler Dustin Hoffman verkörpert wird und dass keine Leute am Film beteiligt waren, die selbst autistisch sind.
Wenn heute ein Film mit einer autistischen Hauptfigur gemacht wird, müsste man weiter sein als in den 80er Jahren. Autistische Schauspielerinnen und Schauspieler sollten für die Rolle genommen werden. Autistische Menschen sollten beim Drehbuch und in der Regie mitwirken. 2021 erschien der Film Music und er macht die gleichen Fehler wie damals Rain Man.
Music sorgt für Kritik
2021 hat sich die Sängerin Sia am Thema Autismus versucht, indem sie im Musicaldrama „Music“ die Geschichte der jungen Autistin Music thematisiert. Schon in der Beschreibung des Films erkennt man Parallelen zu Rain Man. Die Autistin Music, im Film ebenfalls von einer Darstellerin verkörpert, die selbst nicht autistisch ist, wächst bei ihrer Großmutter auf, bis diese stirbt.
Ihre einzige verbliebene Verwandte ist ihre drogenabhängige Schwester Zu, die sich nun um sie kümmern muss. Fortan dreht sich der Film um Zu und wie sie – inspiriert durch die neue Verantwortung – in ein „normales“ Leben zurückfindet.
Auch hier ist der autistische Mensch nicht im Fokus der Geschichte, sondern eigentlich dazu da, um einen nichtbehinderten Protagonisten auf den „Pfad der Tugend“ zurückzubringen.
Zudem ist die Darstellung von Music ähnlich wie im Film Rain Man sehr stereotypisch. Music ist zwar keine Autistin mit dem Savant-Syndrom. Im Gegensatz zu Raymond kann sie nicht sprechen und schirmt sich von ihrer Umwelt mit Kopfhörern ab. Ihre autistischen Episoden werden in Form von Musicalsequenzen dargestellt.
In einem Artikel von Musikexpress heißt es: „Autistische Menschen werden auf die gleiche Art und Weise nachgeahmt, wie sie ihr ganzes Leben lang schikaniert und verspottet wurden.“
Zudem heißt es in einer Bemerkung zur Darstellerin von Music und der Tatsache, dass diese nicht autistisch ist: „Es verstärkt auch die Idee, dass autistische Menschen nicht genug sind und ihr Autismus besser von jemandem dargestellt wird, der keine Vorstellung davon hat, was es heißt, „autistisch zu sein“.“
Anfangs wurden autistische Schauspielerinnen für die Rolle der Music gecastet, doch Sia fand die Zusammenarbeit mit ihnen als zu anstrengend und besetzte die Rolle mit Maddie Ziegler, einer nichtautistischen Tänzerin und Schauspielerin, die von Sia gefördert wird und auch schon in mehreren ihrer anderen Projekte auftrat.
Ebenfalls kritisiert wurde auch eine Szene, in der Music bei einem sogenannten Meltdown auf dem Boden fixiert wird. Marlies Hübner, Autorin und selbst Autistin meint zu der Methode der Fixierung: „Fixierung auf dem Boden ist Gewalt.“ Eine weiter Betroffene meint dazu im Magazin Futter, hätte man sie bei einem Meltdown fixiert, hätte sie sich angegriffen gefühlt.
Nichts über uns ohne uns
Dass der Film Music 2021 dieselben Fehler macht, wie ein Film, der sich in den 80er Jahren mit dem Thema auseinandersetzte, ist bezeichnend. Heute müsste klar sein, welche Verantwortung man als Regisseurin oder Regisseur hat, wenn man eine Personengruppe auf bestimmte Weise darstellt.
Menschen mit Behinderungen haben es noch lange nicht geschafft, Teil der Filmindustrie zu werden. Immer noch werden ihre Geschichten von Nichtbehinderten erzählt. Immer noch gibt es Filmhandlungen, in denen Menschen mit Behinderungen keine eigene Geschichte zugestanden wird, sondern sie als Inspirationsgeber fungieren.
Immer noch werden behinderte Menschen von Nichtbehinderten gespielt und immer noch beeinflussen falsche und stereotype Hollywood Bilder über Behinderung unser Denken. Inklusion muss aber nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Film stattfinden.
The Fruit and Flower Basket
21.05.2022, 16:02
Diese Inselbegabungen scheinen auch im Fall von Savants vorzuliegen, Menschen, die unter Autismus oder Entwicklungsstorungen leiden, aber enorme Fahigkeiten haben. Kim Peek etwa, Vorlage fur Dustin Hoffmanns Charakter im Hollywood-?Film „Rain Man“, war auf Grund einer seltenen Chromosomen-?Storung geistig behindert. Gleichzeitig hatte Peek ein so umfangreiches Faktenwissen, dass er den Beinamen Kimputer bekam. Angeblich hatte er mehrere tausend Bucher auswendig gelernt.