Von Rollstuhlplätzen und flexibler Bestuhlung

Oder: Inklusion - was könnte das sein? (Dieser Text ist in monat Juli/August 2011 erschienen.)

Bilderklärung Exklusion, Separation, Integration, Inklusion
Wikipedia

Mein Mann, der Rollstuhlfahrer ist, und ich gehen gerne miteinander ins Theater, zu Lesungen oder in Konzerte. Selten zwar, aber doch, erleben wir es, dass ein Veranstaltungsort nicht barrierefrei zugänglich ist. Das ist Ausschluss bzw. Exklusion.

Manchmal gibt es in Theatern oder Konzerthäusern spezielle Bereiche, in denen nur RollstuhlfahrerInnen sitzen dürfen. Ich muss dann ganz woanders Platz nehmen als mein Mann, werde von ihm getrennt. Das erleben wir beide immer als beeinträchtigend und diskriminierend, denn der Kulturgenuss ist schlicht kein gemeinsamer mehr, sondern ein isolierter. Das ist Aussonderung bzw. Separation.

Sehr oft gibt es spezielle und ausgewiesene Plätze für RollstuhlfahrerInnen: Meistens weit hinten, manchmal vorne, aber immer ganz seitlich am Rand. Wir können uns weder Sitzplatz noch Preiskategorie aussuchen, sondern müssen uns mit dem Rollstuhlplatz und einem Sitz daneben für mich als „Begleitperson“ abfinden. Das ist Eingliederung bzw. Integration.

Sehr selten ist alles ganz anders.

Dann können wir uns die Preiskategorie aussuchen und, wenn es perfekt ist, sogar wählen, ob wir am Rand oder in der Mitte sitzen wollen, denn die Bestuhlung ist flexibel und mobil: Dort, wo es für uns passt, erhalte ich einen regulären Sitzplatz und für meinen Mann wird ein Stuhl entfernt.

Er nimmt neben mir Platz und wir sind mitten im Publikum. In diesen viel zu raren Momenten erahnen wir, was Inklusion sein könnte: Keine aufwändige Sonderbehandlung, keine Etikettierung, kein Gefühl von Dabei-Sein-Dürfen, sondern selbstverständliche Teilhabe unter Berücksichtigung unserer individuellen Bedürfnisse. Die Verhältnisse am Veranstaltungsort sind so gestaltet, dass sie sich flexibel unseren Bedürfnissen anpassen können, und mein Mann wird nicht mehr behindert. Das muss Inklusion sein.

Konzept der Inklusion

Der Begriff bzw. das Konzept der Inklusion ist Anfang der 1990er Jahre in der internationalen Fachdiskussion über Bildung und Pädagogik für alle Kinder erstmals aufgetaucht. Bereits damals hatte die Kritik an der Praxis schulischer Integration von Kindern mit Behinderungen zur Suche nach einem besseren (Denk)-Modell geführt.

Inklusive Pädagogik hat den Anspruch, Aussonderung umfassend zu überwinden bzw. Hindernisse beim Lernen und bei der Entwicklung für alle Kinder zu beseitigen. 1994 wurde in der Salamanca Erklärung festgehalten, „dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, Straßen- ebenso wie arbeitende Kinder, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder -gebieten.“

Das internationale Dokument beschreibt ausführlich, welche Veränderungen in Bildungssystemen notwendig sind, um Schulen und andere Bildungseinrichtungen inklusiv zu machen. Deutlich wird ausgesprochen, dass es um sehr grundsätzliche Veränderungen in Organisationen und Strukturen geht: Die Anpassungsleistung wird nicht vom Individuum erwartet, sondern von der Umwelt geleistet. Demnach sind die Verhältnisse derart zu gestalten, dass alle entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse und ohne Benachteiligung teilhaben können. Stichwort: flexible Bestuhlung.

Geschichte der schulischen Integration

Der Blick auf die Geschichte der schulischen Integration von Kindern mit Behinderungen in Österreich macht deutlich, wie viel falsch laufen kann bzw. wie sehr Integration die fortgesetzte Aussonderung von Menschen mit Behinderungen bewirken kann: „So viel Integration wie möglich, so viel Sonderschule wie notwendig“, sagen PolitikerInnen gerne. Also wird Integration teilbar in jene, die integrationsfähig sind, und jene, von denen jemand annimmt, dass sie es nicht sind. Die Verhältnisse haben sich nicht geändert, es wurden bloß integrative Nischen geschaffen. Stichwort: Rollstuhlplätze.

„Exklusive Maßnahmen wie Sonderschulen, Beschäftigungstherapie oder Behindertenheime und -wohngemeinschaften können nie inklusiv sein.“

Die beschriebenen Muster bzw. Mechanismen zeichnen sich in allen behindertenpolitischen Feldern ab: Wer als leistungsfähig eingeschätzt wird, erhält Integrationsbeihilfen, bei wem unzureichende Leistungsfähigkeit vermutet wird, der landet in der Beschäftigungstherapie.

Wer hohen Unterstützungsbedarf beim Wohnen hat, muss ausgesondert in einer Behinderteneinrichtung leben, wer nur stundenweise Unterstützung braucht, darf integrativ ambulante Dienste in Anspruch nehmen. Mit Inklusion hat das alles nichts zu tun: Exklusive Maßnahmen wie Sonderschulen, Beschäftigungstherapie oder Behindertenheime und -wohngemeinschaften können nie inklusiv sein.

Dafür müssten sich die Verhältnisse grundlegend ändern, und alle behindertenpolitische Maßnahmen müssten dieser Veränderung dienen: Einerseits durch die Schaffung umfassender Barrierefreiheit, und andererseits durch den flächendeckenden Ausbau deinstitutionalisierter und stark individualisierter Formen der Unterstützung. So würden Behinderungen abgebaut. So könnte Inklusion in allen Lebensbereichen denkbar sein.

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