Was haben die Schweden, was wir nicht haben?

So titelte ein Vortrag, der am 8.3.1996 in Graz gehalten wurde.

Flagge Schweden
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Auf Einladung verschiedener Träger der steirischen Behindertenhilfe und der Behindertenbeauftragten der Universität Graz wurde von Dr. Karl Grunewald, einem der „Architekten“ der schwedischen Behindertenpolitik, Erstaunliches berichtet.

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Leistungen nicht so sehr von den hierorts bekannten: Es gibt Tagesstätten, geschützte Werkstätten, Wohnheime, behindertengerechte Wohnungen, Fahrtendienste, Hilfsdienste und Hilfsmittel. Es gibt aber auch eine garantierte Frührente bei Erwerbsunfähigkeit, egal ob man gearbeitet hat oder nicht.

Seit 1994 gibt es das LSS (Gesetz über Hilfs-und Dienstleistungen), das auch noch diverse andere Leistungen (Familienentlastung für Eltern behinderter Kinder, Kurzzeitunterbringung, persönliche Assistenz, Kontaktpersonen), die es bisher schon für geistig behinderte Menschen gegeben hat, einem erweiterten Kreis von schwerbehinderten Menschen (etwa 100.000) als Grundrecht garantiert.

Die persönlichen Assistenten sind entweder bei den Gemeinden oder bei Assistenzgenossenschaften angestellt, der behinderte Mensch hat jedoch weitgehend die Möglichkeit, sich seine AssistenInnen auszuwählen- auch Bekannte oder Familienangehörige können als AssistentInnen angestellt sein.

Davon und von ein paar Leistungen mehr hat Herr Grunewald erzählt. Die zahlreiche Zuhörerschaft hing an seinen Lippen und lauschte gespannt. Einige werden gedacht haben, das meiste haben wir auch. Richtig, haben wir auch, aber erstens recht mangelhaft und zweitens ohne Rechtsanspruch.

Das ist der wesentliche Unterschied. In Schweden habe ich das Recht, die Dinge zu erhalten, die ich brauche, die notwendig sind, egal ob Assistenz oder Hilfsmittel oder eine finanzielle Grundabsicherung. In Österreich kann ich von einem Sozialversicherungsträger zum anderen, von einem Unterstützungsfonds zum nächsten pilgern, um ein Hilfsmittel zu bekommen.

Auch in Schweden gibt es Staats-, Provinz- und Kommunalleistungen. Es gibt aber Vorkehrungen, daß Kompetenzstreitigkeiten nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden. Auch gibt es Regionalteams (pro 50.000 EW ein Kinderteam, pro 100.000 EW ein Erwachsenenteam), die aus SozialarbeiterInnen, PhysiotherapeutInnen und PsychologInnen, sowie noch anderen Fachleuten bestehen, die die behinderten Menschen dann über lange Zeiträume begleiten, beraten und aus dieser Kenntnis heraus dann auch Leistungen festlegen. Behinderte Menschen sind also nicht ständig wechselnden, meist recht inkompetenten BegutachterInnen ausgeliefert.

In Österreich muß ich um die lebensnotwendigen Dinge meistens betteln, in Schweden gehe ich vor Gericht, wenn mir die Behörde die Unterstützung verweigert, mir das Hilfsmittel nicht gewähren will. Hilfe und Unterstützung zu einem halbwegs normalen Leben sind ein absolutes Grundrecht, in Schweden.

Außerdem muß die Behörde das Entscheidungsverfahren für AntragstellerInnen so transparent wie möglich machen. Sie muß mir als AntragstellerIn als allererstes ganz banal mitteilen, daß der Antrag eingelangt ist und bis dann und dann bearbeitet wird. Am Ende des Verfahrens gibt es dann noch eine Sitzung, wo genau und verständlich erklärt werden muß, was mit meinem Antrag passiert ist und zu welcher Entscheidung die Behörde gekommen ist. So nebenbei sind die meisten gesetzlichen Leistungen gratis.

Allerdings verstärkt sich der Trend zu Beiträgen aus dem Einkommen der jeweiligen Betroffenen.

Stationäre Einrichtungen werden seit den 70iger Jahren sukzessive abgebaut. Der Bestand an Großheimen ging und geht zurück.

Das heißt, daß auch Einrichtungen mit einem recht hohen Standard geschlossen wurden. Es gibt ein klares Bekenntnis zu kleinen und kleinsten Wohnformen (in den „Wohnheimen“ leben meist 4 Personen miteinander und auch da in jeweils eigenen Wohneinheiten) und nicht nur, weil das billiger ist, sondern weil es eine grundsätzliche Übereinstimmung bei Politikern und in der Gesamtbevölkerung gibt: Behinderte sind Menschen wie Du und Ich und sollen daher auch möglichst so leben. Das ist auch das ganze Geheimnis des Normalisierungsprinzips.

Folgendes hat sich im schwedischen Parlament abgespielt: Als man draufgekommen ist, daß die 1994 neu eingeführten Leistungen ungefähr 1 Milliarde Schilling mehr als berechnet kosten würden, gab es natürlich Diskussionen. Sind die alle notwendig, kann man nicht ein paar streichen, muß der anspruchsberechtigte Personenkreis so groß sein.

Überhaupt wo es doch ökonomisch so schlecht ist. So hat man gefragt. Da meinte der zuständige Minister: Ja es ist notwendig. Wir müssen das Gesetz eher noch erweitern, weil gerade in wirtschaftlich schlechten Zeiten behinderte Menschen größere Unterstützung brauchen. Das Gesetz ist geblieben wie es ist. Auch weil eine Änderung bei der Gesamtbevölkerung nicht gut angekommen wäre.

In Österreich fällt den meisten Politikern zu sozialen Fragen allenfalls ein: „des koust sou vue“.

Wir erinnern nur an die Diskussionen um das Pflegegeld und zwar mit Grausen. Auch ein Unterschied in der politischen Kultur, den wir einmal festhalten möchten!

Zu guter Letzt noch ein kleiner Denkanstoß: Österreich hat ein Behindertenkonzept der Bundesregierung. Schweden hat einklagbare Gesetze.

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