Wehren lohnt sich doch!

"Kommst du mit zu unserm Wochenend-Seminar, Otti?", fragt eine Teilnehmerin der hiesigen "IG Schwerbehinderte" vom DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) am Rande eines Vortrags über die UN-Konvention, den ich diesen August für die Gruppe gehalten habe.

Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz
Scharl, Magdalena

Otti Z. ist auf Assistenz angewiesen. Er lebt bei seinen Eltern und wird durch einen ambulanten Pflegedienst „versorgt“. Seit vielen Jahren ist Otti ein Mitglied der Gruppe. Zum Wochenend-Seminar der Gruppe konnte er noch kein einziges Mal mitkommen.

Sein Pflegedienst gehört zwar zu einem großen, überregionalen Träger, aber er kommt nur in Bremen zu ihm nach Hause – nicht außerhalb, 80 km entfernt in ein Tagungshaus an der Nordseeküste.

Ganz schön blöd

Aber man kann sich anscheinend daran gewöhnen und damit abfinden. Es ist ja schon die ganzen Jahre über nicht möglich, über’s Wochenende weg zu fahren – außer falls die Eltern mitkommen und die Assistenz übernehmen.

In Artikel 29 der UN-Konvention steht dazu beispielsweise: „Die Vertragsstaaten garantieren Menschen mit Behinderungen die politischen Rechte sowie die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen zu genießen, und verpflichten sich, sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können“.

Wie kann es dann angehen, dass die öffentlichen Stellen Otti Z.s Pflege im Elternhaus finanzieren, aber er jedes Mal vom Wochenendseminar seiner DGB-Interessengemeinschaft Schwerbehinderter ausgeschlossen ist, weil er außerhalb Bremens die notwendige Unterstützung nicht bekommt?

Auch „die Bildung von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, die sie auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene vertreten, und den Beitritt zu solchen Organisationen“, fördern die Vertragsstaaten laut Artikel 29, Abs. 2, ii aktiv. Aber wie soll eine Mitarbeit in nationalen oder gar internationalen Organisationen möglich sein, wenn sich viele Menschen mit Assistenzbedarf nur innerhalb ihres eigenen Wohnortes bewegen können?

Persönliche Assistenz

Mit Persönlicher Assistenz, am besten im Arbeitgeberinnen-Modell, ist so etwas leichter zu organisieren. (Für die leichtere Lesbarkeit habe ich nur die weibliche Wortform benutzt. Männer und alle anderen Menschen sind ausdrücklich mitgemeint.) Die individuellen Bedürfnisse wiegen hier schwerer als die Interessen des Pflegeverbandes und der routinemäßige Ablauf des gewohnten Dienstplans.

Aber auch mit Persönlicher Assistenz sind Reisen ein Problem, wenn man zum Beispiel 4 oder 6 Stunden am Tag Assistenz braucht, ein Tag aber wesentlich länger ist.

Sind die Assistentinnen bereit mitzukommen, 2-3 Arbeitseinsätze zu haben und den Rest der Zeit nicht bezahlt zu bekommen? Oder spart man Stunden an, um die ganze Reisezeit bezahlen zu können? Vielleicht sogar für 2 Assistentinnen, weil die Reise so lang ist, dass sie sich abwechseln müssen? Wer finanziert diese Kosten?

Unter Buchstabe y in der Präambel wird von dem Ziel gesprochen, die „tiefgreifende sozialen Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen“ beseitigen und „ihre Teilhabe am bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben auf der Grundlage der Chancengleichheit fördern“ zu wollen.

In Artikel 30, Abs. 5, e sagen die Vertragsstaaten Maßnahmen zu, „um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Dienstleistungen der Organisatoren von Erholungs-, Tourismus-, Freizeit- und Sportaktivitäten haben.“

Gehört die Finanzierung des möglicherweise zusätzlich anfallenden Assistenzbedarfs außerhalb des eigenen Wohnortes dazu, wenn diese Tourismusaktivitäten genutzt werden? Oder geht es nur um Erholungsaktivitäten am eigenen Wohnort?

Gehört es zur Chancengleichheit und zur gleichberechtigten Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben, an Erholung und Freizeit dazu, reisen zu können? Nicht nur für ein behindertenpolitisches Wochenend-Seminar im Jahr, sondern öfter?

Hat man das Recht zu reisen nur zur politischen Betätigung oder auch zum Vergnügen, um in den Urlaub zu fahren oder um Freunde zu treffen? Wie weit geht die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft, die uns in der UN-Konvention zugesichert wird?

Am Ende meines Vortrags haben zwei Gruppenmitglieder Ideen, wie sie Otti Z. dabei unterstützen können, am Tagungsort einen Pflegedienst zu bekommen, um in diesem Oktober endlich mit zum Seminar fahren zu können.

Otti ist schon da!

Und tatsächlich: Als ich gestern an der Nordsee ankomme, ist Otti schon da! Es gibt nicht nur einen regionalen Pflegedienst, der ins Tagungshaus kommt, das Amt für soziale Dienste hat sogar ein Rollstuhl-Taxi für den Hin- und Rückweg finanziert. Man wird doch immer wieder gerne positiv überrascht!

Ich glaube, den Ausschlag hat gegeben, dass eine der DGB-Frauen dem Rechtsanwalt, der als Otti Z.s rechtlicher Betreuer eingesetzt ist, die frohe Botschaft übermittelt hat, dass die DGB-Gruppe, falls Otti Z. wieder nicht dabei sein kann, gerne vor Gericht klagen wird, damit in Zukunft nicht nur Olli Z. selbst, sondern auch andere assistenzabhängige Menschen ihr Recht auf Teilhabe am politischen Leben außerhalb des eigenen Wohnortes wahrnehmen können. Sie hat sich auf die UN-Konvention bezogen und gewonnen.

Also, Otti, Tülin, Lisa und wer auch immer: Wehren lohnt sich doch! Die Angelegenheit wird zur Nachahmung empfohlen!

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