Wem nützt ein Zertifikat?

In der Schweiz und Deutschland wird wieder über ein Zertifikat für barrierefreie Internetangebote diskutiert. Anlass war eine Präsentation in der Schweiz.

Am 16. August 2006 stellte die Schweizer Stiftung „Zugang für alle“ ein neues Schweizer Qualitätslabel für barrierefreie Webseiten vor. Das rief auch DIN CERTCO Gesellschaft zur Konformitätsbewertung mbH wieder auf den Plan, die eigentlich „bis Mitte 2005“ in Deutschland Zertifizierungen durchführen wollte.

Bevor diese Initiativen in der Schweiz und Deutschland kritisch beleuchtet werden, seien einige positive Aspekte aufgezählt.

„Menschen mit Behinderung sind integrierter und zentraler Bestandteil des Zertifizierungsverfahrens. Jede Website wird von blinden, sehbehinderten und motorisch behinderten Menschen überprüft“, schreibt die Stiftung.

Weiters wird erwähnt, dass eine breite Trägerschaft hinter dem Zertifikat steht. Dieser Umstand ist sehr wichtig, weil sonst jede Art von Testergebnis schon vorweg als gesellschaftlich irrelevant anzusehen ist.

Und als letzter hervorzuhebender Punkt sei auf die Stiftung „Zugang für alle“ verwiesen, die sich in den letzten Jahren kontinuierlich für das Thema barrierefreies Internet eingesetzt und es so hoch gehalten hat. Viele Internetangebote sind nicht barrierefrei und es besteht daher dringender Handlungsbedarf.

Und trotzdem.

Meine Skepsis gegenüber einem Zertifikat hat sich bestätigt. Ich bin zwar nicht grundsätzlich gegen diese Art der Herangehensweise, aber die Nachteile scheinen zu überwiegen. Folgende Fragen gilt es meiner Meinung nach zu beleuchten:

Worauf bezieht sich ein Zertifikat?

Vor langer Zeit gab es eine Periode, in der unter barrierefrei (damals noch „blindengerecht“ oder „behindertengerecht“ genannt) von verschiedenen Personen Unterschiedliches verstanden und daher verschiedene Positionen vertreten wurden. Dies ist heute zwar manches Mal auch noch so, aber seit 1999 existieren die „Web Content Accessibility Guidelines 1.0 (WCAG)“, eine Art international anerkannter Richtlinien, die in allen modernen Gleichstellungsgesetzen als Maßstab herangezogen werden. Diese Richtlinien definieren 3 Stufen der Barrierefreiheit (von der niedrigsten die gerade mal ein wenig Zugang sichert bis zur höchsten, die komfortable Benutzung sichern soll).

Wenn ein Internetangebot nicht einmal die niedrigste Stufe erreicht, ist es als nicht barrierefrei anzusehen. Manche Gesetze fordern aber auch die Erreichung der zweiten Stufen, weil erst dort ein grundsätzlicher Zugang ohne besondere Erschwernis ermöglicht wird. Jede Zertifizierung baut daher auf diesen Richtlinien auf.

Was bestätigt ein Zertifikat?

Die Einhaltung bzw. Sicherstellung eines Qualitätsstandards. Im konkreten Fall die Einhaltung der WCAG. Von Staat zu Staat gibt es evtl. leichte Variationen, da die Verordnungen die WCAG minimal ergänzen. Doch grundsätzlich könnten Betreiber von Internetangeboten – wenn sich Zertifikate in Zukunft durchsetzen – auch die Zertifizierungsstelle anderer Staaten heranziehen, da ja alle auf der gleichen Grundlage (WCAG) basieren.

Ob ein Zertifikat etwas bestätigt – und zwar rechtsverbindlich – ist zu hinterfragen. Genau genommen eigentlich nicht.

Wen schützt ein Zertifikat?

Diese Frage ist leicht zu beantworten: Niemanden. Das Zertifikat ist eine Art Urkunde, dass sich jemand bemüht hat und jemand anderer das anerkennt. Wenn man – beispielsweise – das Österreichische Behindertengleichstellungsgesetz hernimmt und ein Fallbeispiel erstellt, dann sieht es so aus: Ein Betreiber eines Internetangebotes hat irgend eine Art von Zertifikat (von welcher Zertifizierungsstelle auch immer). Er wird – wegen vermeintlicher Barrieren und daraus resultierender Diskriminierungen – angeklagt.

Ein Zertifikat könnte keine Art von Schutz darstellen; bestenfalls eine Art Expertenmeinung, die im Rahmen des Verfahrens eingebracht wird. Grundlage sind die internationalen Richtlinien (WCAG) und deren Einhaltung. (Ob im Fall einer Verurteilung – sprich Schadenersatzzahlung – sich nun der Betreiber an der Zertifizierungsstelle schadlos halten wird, sei hier einmal unberücksichtigt. Genauso sei hier – um nicht gänzlich abzuschweifen – die Frage außer Acht gelassen, ob noch die Zertifizierungsstelle in einem Anschlussverfahren schadenersatzpflichtig gegenüber dem betroffenen Anwender werden könnte.)

Wer kann sich ein Zertifikat leisten?

Die Zertifizierungsstellen verlangen für das Zertifikat zwischen einigen hundert, und einigen tausend Euro. Dieser Betrag würde zusätzlich zu den Kosten der Erstellung, Fehlerbehebung und Betreuung eines Internetangebotes anfallen. Es stellt sich die Frage, wer sich das leisten kann. Ansgar Hein, Experte vom Barrierekompass, meint dazu: „Vielleicht droht uns eine Zwei-Klassen-Gesellschaft der Zertifikate: Jene, die sich Zertifikate leisten können und jene, die sie eigentlich brauchen.“

Machen wir es konkret: In Österreich gibt es derzeit zwei Internetangebote, die im Rahmen des größten deutschsprachigen Wettbewerbs – der BIENE – in den letzten Jahren Preise gewonnen haben: Es handelt sich um das Österreichische Jüdische Museum sowie den Nachrichtendienst BIZEPS-INFO. Für beide Angebote wäre es nicht in Frage gekommen – sagen wir einmal 1.500 Euro – für ein Zertifikat auszugeben.

Wer – wie ich – überdies in Österreich Erfahrungen mit Ministerien hat, kann sich schnell ausrechnen, wieviele ein Interesse hätten solche Summen zu investieren. Manche von denen geben bei einem Relaunch, der auf einer halbwegs guten Seite basiert, kaum so viel für die barrierefreie Programmierung und Testung aus.

Was sagt ein Zertifikat aus?

Diese Frage stellten wir im Vorjahr einer Reihe von Expertinnen und Experten. „Ein Qualitätssiegel kann Kunden anlocken, wird aber schnell zum Bumerang, wenn nicht drin ist, was draufsteht“, gab Hubertus Thomasius zu bedenken.

Ähnlich argumentierte Rudi Konar von der Schneeball Media GmbH. „Ein Zertifikat kann nur eine Momentaufnahme eines Internetauftritts prüfen“, doch wirklich notwendig wären „Strategien, die künftige Sicherung der Barrierefreiheit bieten“, so Konar, der das Internetangebot der Stadt Wien mit seiner Expertise unterstützt.

Wolfram Huber von web-tech coaching ist beispielsweise für Barrierefreiheit beim Internetangebot des Sozialministeriums engagiert und fordert, „dass einheitliche Standards gewährleistet sein müssen und daher im Rahmen von WAI ablaufen sollen.“

Die Vorsitzende der österreichischen Plattform „accessible-media Zugang für alle„, Eva Papst, formuliert es drastisch: „Letztlich ist die Forderung nach Zertifizierung weniger der Wunsch nach objektiver Beurteilung eines Qualitätszustandes, als vielmehr der Ausdruck von Unsicherheit“.

Befürchtungen hinsichtlich der Qualität

Die im Rahmen der Zertifizierungen immer laut gewordenen Befürchtungen hinsichtlich der Qualität und der daraus folgenden Aussagekraft sind leider nun bei der Schweiz eingetroffen. Kaum wurden die ersten Seiten mit einem Zertifikat versehen, wurde in einschlägigen Diskussionslisten sachlich sehr detailliert nachgewiesen, dass die Schweizer Seiten in vergleichbaren Tests in Deutschland (die ja auch auf WCAG basieren) durchfallen würden.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Diskussion nun weiterentwickeln wird. Für Gesprächsstoff ist auf jeden Fall gesorgt.

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