Wer in einem Heim lebt, wird zwangsläufig in seiner persönlichen Selbstbestimmung beschnitten und ist einem hohem Gewaltrisiko ausgesetzt.
Hinlänglich ist bekannt: Die segregierenden Einrichtungen stehen einer inklusiven Gesellschaft entgegen. Menschen mit Behinderungen müssen selbst bestimmen können wo und wie sie leben, das verlangt auch die UN-Behindertenrechtskonvention.
Dennoch scheint schlicht der Wille zur Veränderung von Seiten der Politik zu fehlen.
Das Leben in Einrichtungen
In den eigenen vier Wänden zu leben ist mit Freiheiten verbunden, die für viele selbstverständlich erscheinen. Wir entscheiden über Besucher*innen, über unsere Essens- und Schlafzeiten und gestalten auch den übrigen Alltag. Das Leben in Einrichtungen hingegen verläuft schon aus organisatorischen Gründen in starren Strukturen und Regeln.
Handlungsspielraum für Bewohner*innen existiert nur in geringem Ausmaß, Privatsphäre sowie gelebte Liebes- und/oder Sexualbeziehungen bleiben auf der Strecke ebenso die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.
Das Heimsystem als Teil der Sondereinrichtungen verhindert, dass Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen einander begegnen und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben.
Zudem birgt es auch ein erschreckend hohes Risiko körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt zu erfahren. Dabei spielt die Größe der Einrichtung keine Rolle, wie die Ende 2019 präsentierte Studie des Instituts für Kriminalsoziologie (IRKS) belegt.
Isolation – Gefahren des Beschützungsnarrativs in Krisenzeiten
Von Mitte März bis Anfang Mai 2020 waren Heimbewohner*innen von besonders restriktiven Einschränkungen betroffen. Aufgrund der oft höheren Vulnerabilität der Bewohner*innen untersagten Heimleitungen, die Wohnheime zu verlassen und Besucher*innen zu empfangen – und das auch in Zeiten, in denen der nicht-institutionalisiert lebende Teil der Bevölkerung schon die Gastgärten besuchten.
Erich Wahl vom VertretungsNetz spricht bei einer Veranstaltung des Unabhängigen Monitoringausschusses zur Situation von Menschen mit Behinderungen während der Covid-19-Pandemie (27. April 2021) aufgrund dieser Ungleichbehandlungen von struktureller Diskriminierung.
Die zunehmende soziale Isolation hätte besonders bei wenig oder nicht-mobilen Personen zur Verschlechterung des physischen und psychischen Gesundheitszustandes geführt. Problematisch sei auch, dass viele Einrichtungen in ihrer Kommunikation gar nicht oder ungenügend zwischen gesetzlichen Grundlagen, Verordnungen, Regeln und Empfehlungen unterschieden haben.
Heimbewohner*innen waren von teils unzulässigen überschießenden freiheitsbeschränkenden Maßnahmen betroffen, wurden mit Drohungen bei Verlassen des Heimes konfrontiert und massivem Druck ausgesetzt, so die Erfahrungen von VertretungsNetz. Selbst Spaziergänge, die zur Erholung immer möglich waren, seien untersagt worden.
“Die teils willkürlich veranlassten Regeln und Vorschriften, explizite und indirekte Androhungen, Falsch- und Halbinformation führten zur Verunsicherung und Entmündigung”, stellt Wahl fest.
Auch Reinhard Klaushofer, Leiter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte, kritisierte anschließend die “überschießenden Restriktionen” und die “Zurückdrängung der Selbstbestimmung zugunsten einer Übermacht an Sicherheit”.
Antiquierte Vorstellungswelten als Barrieren
Das Wesen von geschlossenen Systemen wie Heimen sowie die Erfahrungen von Heimbewohner*innen und anderen Expert*innen zeigen deutlich, dass Veränderung mehr als dringlich ist.
Gelebte Menschenrechte und Inklusion sind dabei die beste Prävention vor Gewalt und schwerwiegenden Diskriminierungen. Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention hält das Recht auf Selbstbestimmtes Leben und Inklusion in der Gemeinschaft fest. Österreich hat damit den Auftrag die entsprechenden Bedingungen zu schaffen, damit Menschen mit Behinderungen selbst entscheiden können wo und mit wem sie leben.
Doch 13 Jahre nach inkrafttreten der Konvention ist immer noch keine konkrete Strategie in Sicht, um den Prozess der De-Instiutionalisierung auch nur einzuleiten. Anstatt umfassende Unterstützungsangebote für eine unabhängige Lebensführung aufzubauen, fließt immer noch Geld in den Neubau von segregierenden Einrichtungen.
Alte Heime, wie das Konradinum in Eugendorf bei Salzburg, werden aufwendig neu-errichtet und stellen auch trotz modernen Neubau keine menschenrechtskonforme Wohnform dar.
Abschließend bleibt darauf hinzuweisen, dass maßgebliche Entscheidungsträger*innen der Politik, die stetig bemüht sind Heimen ein humaneres Image zu verpassen, natürlich selbst nicht darin leben (wollen).
Dieser Artikel ist zuerst bei dem Online-Medium „Unsere Zeitung“ erschienen.
Sandra
11.10.2021, 16:03
DANKE!
Ich selbst, als Bewohnerin einer Wohngemeinschaft für psychisch Beeinträchtigte, habe hier bei BIZEPS unter einem Artikel zu diesem Thema vor ca. 1 1/2 Jahren darüber berichtet, dass uns Bewohner:innen (alle erwachsene Menschen) MONATELANG NICHTS MEHR erlaubt wurde (z.B. einkaufen gehen, Leute treffen, etc.), außer Spaziergänge zu tätigen (physische Kontakte zur Außenwelt wurden verboten)!
Dies stellte auch insofern ein großes Problem dar, als einige von uns im Bezug auf die Mobilität auf die Betreuer:innen angewiesen und somit total abhängig und dem ganzen vollkommen ausgeliefert waren.
Als ich mich bei der Leitung darüber mehrmals beschwert und eine offiziellen Erlass bzw. eine Begründung dafür schwarz auf weiß verlangt hatte, wurde ich entweder immer abgewimmelt oder es wurde einfach, ohne mir jemals irgenwas vorgelegt zu haben, gesagt, dass die Bestimmung vom Land (Oberösterreich) komme – null Transparenz und Ehrlichkeit uns gegenüber und gleichzeitig maximale Ausbeutung unserer Vulnerabilität und das im Jahr 2020!
Und keiner macht was dagegen… wie immer.
P.S.: Werft mal einen Blick auf die forensisch-psychiatrischen Abteilungen. Dort haben die Menschen eigentlich überhaupt keine Rechte mehr, die durch die Pandemie nur noch verstärkt wurden (ja, ich spreche aus persönlicher Erfahrung).
Alexandra Bachtiar
01.10.2021, 10:11
Meine autistische. Tochter lebte 10 Jahre in Einrichtungen. Ich war Alleinverdienend.
Was da alles vorkam geht nicht in diesen Rahmen! Als man ihr ihre Lieblingsbeschäftigung, das Zeichnen, verboten hatte und ihr Verhalten unerträglich wurde war mir klar, dass ich meinen geliebten Beruf (Soloc ellistin im RSO)aufgeben musste.
Ich musste in Frühpension gehen um sie zu Hause haben zu können. Seit 2003 ist Laila im Freien Atelier Gugging und sehr erfolgreich!Sie wohnt zu Hause.
Inzwischen wurde ich 85, der19 Stundendienst wird für mich immer schwieriger.Heimhilfe unerschwinglich.
Ich habe lange gesucht und in NÖ ein Heim mit Eingewöhnungszeit gefunden und mit menschlichem Umgang. Zwischen Wien und NÖ gibt es eine Mauer. Kein Fahrtendienst überwindet diese.Bin dabei eine Lösung zu erkämpfen!
Mit besten Grüßen Alexandra Bachtiar
Sandra
11.10.2021, 16:09
Meinen allergrößten Respekt zolle ich Ihnen und nur das Beste und alles Liebe wünsche ich Ihnen und Ihrer Tochter!
Eine indirekt Betroffene
29.09.2021, 21:49
Die Regeln und Vorschriften,genannt „Maßnahmen“entspringen meistens reiner Willkür unprofessioneller Mitarbeiter oder Vorgesetzten und sind für die, die sie zu befolgen haben,sehr oft logisch nicht nachvollziehbar.
Aber M.m.B.verstehen ja ohnedies nichts!
Für die sind ja die sog. Experten zuständig!
Was heute erlaubt ist, wird morgen verboten und umgekehrt.
Falsch-und Halbinformationen gehören zur versteckten Strategie der Machterhaltung unfähiger Mitarbeiter und Vorgesetzten und dienen der Unterdrückung der Mündigwerdung.
Das Perverseste in diesem System ist, dass die, die die Menschenrechte mit Füßen treten,in der Öffentlichkeit sich für jene stark machen.
Welche schizophrene Welt!
Wann wird dieses korrupte und menschenverachtende System endlich aufgebrochen?
Und ich weiß, wovon ich spreche!!
Eine Mutter einer behinderten Frau
29.09.2021, 21:30
Gibt es Angehörige, die es wagen, auf diese genannten, massiven Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, so wird deren Schützling, der nichts angestellt hat, so mir nichts, dir nichts, vor die Tür gesetzt.
Diese Erpressungsmethoden mit Heimplätzen fallen unter die sog. Autonomie von Heimen und die Politik sieht zu, ja unterstützt sogar diese unmenschlichen Methoden der Gewalt gegenüber M.m.B., die außerhalb dieser fragwürdigen Einrichtungen keine Alternative bekommen.
Steck die Politiker einmal gegen ihren Willen in so eine Einrichtung und behandelt sie, wie die M.m.B.!
Dann reden wir weiter!
Erst wenn sie es am eigenen Leib erfahren würden, würden sie diesem bösen Treiben vielleicht Einhalt gebieten.
Noch dazu wird für dieses böse Treiben noch sehr viel Geld(Steuergeld) in die Hand genommen, welches dazu beiträgt, dass dieses kein Ende findet.
Tom
29.09.2021, 17:04
Ich fürchte, es wird für eine wirkliche Trendumkehr nicht ausreichen, mal wieder einen Artikel zu schreiben und diesen zu loben.
Die Behindertenpolitik ist leider schon vor der Coronakrise eingeschlafen. Jetzt ist es noch schwieriger geworden.
gabriella
29.09.2021, 17:24
ja, genau – die behindertenpolitik ist schon vor corona eingeschlafen und seit corona im coma! auch seitens der behinderten selbst.
online den ‚tag der behinderten‘ und ähnliches abfeiern, statt auf die strasse zu gehen, da schmoren die behinderten im eigenen saft oder schlafen den schlaf weiter, den die ungerechten der welt über sie oder sie über sich selbst verhängt haben.
Karin Burger-Feuchter
29.09.2021, 12:34
Liebe Frau Wahl, danke für diesen wichtigen Beitrag. Aus Ihren im Artikel genannten Gründen hat meine Tochter, die im Rollstuhl mobil ist, immer verweigert in eine Einrichtung zu gehen. Selbstbestimmtes Leben wäre das Ziel. Danke lg Karin Burger-Feuchter
Klaudia Karoliny
29.09.2021, 09:15
Ich danke auch der Frau Hannah Wahl für Ihren ernüchternden Beitrag!
Und noch dazu wird diese Institutionalisierung oft mit EU-Geldern co-finanziert, wie z.B. aus Mitteln des EU Landwirtschaftsfonds (ELER-Gelder). Das finde ich überhaupt mehr als geschmacklos.
Gerhard Lichtenauer
29.09.2021, 08:37
Die Republik Österreich und insbesondere ihre Gliedstaaten verharren unbeirrt und ungehindert in gewohnter Menschenrechtsignoranz und vorsätzlichem Menschenrechtsbruch!
Bereits 2008 wurde die unverzügliche Umsetzung der UNBRK völkerrechtlich verbindlich zugesagt. Die nötige Reparatur aller menschenrechtlich ungesetzlichen Gesetze, Verordnungen und Richtlinien, sowie der noch viel schlimmeren Verwaltungspraxis wurden jedoch bis heute noch nicht mal ernsthaft in Angriff genommen. Nötige Ergänzungen in der Bundesverfassung wurden noch nicht einmal angesprochen.
Charlotte
29.09.2021, 08:08
Danke für diese gute Formulierung und Zusammenfassung. Vielen Menschen ist es nicht bewusst, was es heißt, in einem Heim zu leben.