Wie „behindertengerecht“ ist das neue Hörsaalzentrum der Uni Wien?

Die ExpertInnen der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen haben es geprüft und spürten zahlreiche Fallen und Gefahrenstellen auf, doch die Uni Wien sieht dazu "keinen Gesprächsbedarf".

Gefährliche und viel zu steile Rampe
Krispl, Ulli

Am 3. März 2003 führte das gemeinsame Verkehrsgremium der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen der Ostregion eine Ortsbegehung in dem laut Presseaussendung „behindertengerechten“ neuen Hörsaalzentrum am Unikampus der Universität Wien durch; das Ergebnis war ernüchternd:

  • In der Nähe der WC-Anlagen im Untergeschoss findet sich eine unabgesicherte freitragende Treppenanlage mit einer maximalen Durchgangshöhe von ca. 175 cm. Selbst für normalsichtige Personen könnte dieses Hindernis zur Gefahr werden, wenn sie einmal unachtsam sind. Sehbehinderte und blinde Menschen können diese Gefahr überhaupt nicht rechtzeitig erkennen; schwerste Verletzungen verursacht durch einen Anprall des Kopfes gegen die Betonkante können die Folge sein.
  • Aber vielleicht ist man davon ausgegangen, dass diese Gefahr gar nicht aktuell besteht, denn zu den WC-Anlagen führen ja auch keine Blindenleitlinien, dadurch wird das selbstständige Auffinden dieser Einrichtungen sehbehinderten und blinden Menschen unmöglich gemacht oder zumindest äußerst erschwert.
  • Immer wieder trifft man auf raue, kantige Betonsäulen, die, wenn man sie touchiert, wohl auch nette Schürfwunden geben können.
  • Die Handläufe ragen nicht über die unterste Treppenstufe hinaus (siehe ÖNORM B 1600), was dazu führen kann, dass der sehbehinderte oder blinde Mensch unvorbereitet hinunterplumst.
  • Auf einem Treppenabsatz stand ein Feuerlöscher, der beim Abwärtsgehen eine Sturzgefahr bewirkt.

Darum wendete sich das gemeinsame Verkehrsgremium der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen der Ostregion per Brief und E-mail an das Rektorat der Universität Wien und die Bundesimmobiliengesellschaft mbH. (BIG), schilderte die Mängel und machte folgende Anregungen:

„Die alleinige „Absicherung“ eines Gefahrenbereiches – freitragende, untergehbare Treppe mit einer Durchgangshöhe von höchstens 175 cm – durch eine mögliche Anbringung einer Blindenleitlinie wird von den Blindenorganisationen striktest abgelehnt, ebenso wird die Aufstellung von Blumentrögen und dgl. als ungeeignete „Schutz“-Maßnahme angesehen. Eine Absicherung gegen das Unterlaufen durch z.B. Errichtung einer Wand (mit Garderobekästchen) oder durch ein Schutzgeländer entsprechend der ÖNORM V 2104 – Baustellen- und Gefahrenbereichsabsicherungen – an beiden Seiten der Stiegenanlage ist erforderlich. Die Kanten der Betonsäulen wären zu verkleiden um die Verletzungsgefahr zu minimieren.“

So weit so gut!

Die Uni-Leitung reagierte „beleidigt“ und schroff und meinte zu den Expertenhinweisen lapidar:

„Die Universität hatte immer die Absicht die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen, entsprechende Vorgaben an die planenden Architekten sind nachweisbar; diese Vorgaben resultierten ausschließlich aus dem Anliegen, Verbesserungen für die Behinderten zu erreichen; dafür war nicht das Jahr der Behinderten ausschlaggebend. Ich darf festhalten, daß die Hörsäle auch jetzt schon deutliche Verbesserungen der Situation erbringen, weitere Maßnahmen werden in den nächsten Wochen in Abstimmung mit der Behörde gesetzt.“

Und dann die Uni-Leitung abschließend: „Derzeit gibt es keinen Gesprächsbedarf, da die erforderlichen Maßnahmen bereits in die Wege geleitet wurden.“

Sachlicher und entgegenkommender war da schon die Antwort der BIG:

„Selbstverständlich nehmen wir gerne alle Hinweise und Anregungen, die zur Vermeidung von gefährlichen Situationen und Unfällen dienen auf und unterziehen diese einer gewissenhaften Prüfung um gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen durchführen zu lassen. Zu Ihrer Information teilen wir Ihnen mit, dass es bereits eine Begehung durch einen Vertreter des Magistrats der Stadt Wien / MA 12 – Fachstelle der Stadt Wien für ein barrierefreies und generationsgerechtes Planen, Bauen und Wohnen – stattgefunden hat. Die von Ihnen aufgezeigten Punkte wurden unter anderem auch bei dieser Begehung festgestellt, wobei eine Entschärfung der Situation umgehend beauftragt wurde und bereits in Durchführung ist.“

Nach dem Schreiben der BIG wird nun

  • eine für sehbehinderte und blinde Menschen wahrnehmbare Absperrung zur Absicherung der Gefahrenquelle „freitragende untergehbare Treppe“ umgehend errichtet,
  • eine tastbare Bodenleitlinie zu den WCs, die eigentlich nicht vorgesehen war, zur Diskussion gestellt,
  • die Betonsäulen im Absprache mit der MA 12 so gesichert, dass keine Verletzungsgefahr mehr besteht und
  • die Verlängerung der Handläufe über die letzte Treppenstufe Projektiert und zur Diskussion gestellt.
  • Der Feuerlöscher am Treppenabsatz wurde laut BIG von Dritten dort hingestellt und ist bereits wieder an seinem eigentlichen Platz abgestellt.

Die BIG wies aber auch darauf hin, dass das Hörsaalzentrum ansonsten behindertengerecht gestaltet sei; so sei die Zugänglichkeit für körperbehinderte Menschen durch elektrisch öffnende Türen und die Erreichbarkeit aller Geschoße per Aufzug gewährleistet und die Benützbarkeit für behinderte Menschen ferner durch behindertengerechte WCs, Rollstuhlplätze, Induktionsanlagen, Strom- und Internetanschlüsse in den Hörsälen sichergestellt.

Doch Wolfgang Kremser, der Vorsitzende des gemeinsamen Verkehrsgremiums der Sehbehinderten- und Blindenorganisationen der Ostregion und Sprecher der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Verkehrssicherheit visuell behinderter Menschen, zeigt sich – bei aller Anerkennung der guten Vorsätze und Absichten – dennoch verwundert:

„Den Sehbehinderten- und Blindenorganisationen ist insbesondere im Jahr der behinderten Menschen in der EU 2003 völlig unverständlich, dass eine Veranstaltungseinrichtung, die in einer Presseaussendung vom 3. März 2003 als „behindertengerecht“ angekündigt wurde, mit derartigen Mängeln für den universitären Betrieb freigegeben wird. Die Verletzungsgefahr für sehbehinderte und blinde StudentInnen ist extrem hoch und daher erwarten wir uns die umgehende Sanierung dieser Mängel entsprechend den einschlägigen ÖNORMEN.“

Naja, vielleicht ist das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 doch noch für etwas gut: Und zwar dafür, dass nichtbehinderte Menschen endlich zur Kenntnis nehmen, dass des Rätsels Lösung in der weitestgehenden Einbeziehung der ExpertInnen der behinderten Menschen zu finden ist und ein „Gesprächsbedarf“ daher immer besteht.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich