Wie die Brailleschrift mein Leben veränderte!

Mit 11 Jahren erlitt ich einen Autounfall, der mich ein Jahr später völlig erblinden ließ. Diese Gewissheit, bald nichts mehr sehen zu können, trieb mich in völlige Isolation.

Blinde Person liest Braille
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Wusste ich zwar, dass es für Menschen, die nichts sehen können, eine Schrift gab, die sich Brailleschrift nannte. Hatte ich auch schon des Öfteren einen blinden Mann auf dem U-Bahnhof gesehen, der sehr zielsicher sich seinen Weg mit dem weißen Stock bahnte.

Dieses Thema „blind“ war sehr weit entfernt für mich; trug ich zwar eine Brille, um besser sehen zu können, verband ich dies jedoch nicht damit, bald selbst nichts mehr sehen zu können. Somit traf mich die Erblindung sehr tief und hart.

Mir machte das neue Leben große Angst.

Ich fragte mich ständig: Wie mag mein Leben ohne sehen zu können weitergehen? Meine Eltern erzählten mir, dass es eine Schule in Berlin-Steglitz (Johan August-Zeune-Schule für Blinde) gibt, die blinde Kinder und blinde Erwachsene aufnimmt, um ihnen beim Lesen und Schreiben der Brailleschrift zu helfen.

Diese Vorstellung erweckte in mir Angst und Schrecken. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich mit meinen Fingern die Brailleschrift ertasten sollte. Ich wollte aber wieder lesen und schreiben können! Also blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf die Brailleschrift einzulassen. Ich ahnte da noch nicht, was alles auf mich zukommen sollte …

Der Wechsel erfolgte dann im April 1978 an die Blindenschule. Von nun an hieß es morgens von einem Schulbus von zuhause abgeholt zu werden, um zur Blindenschule gekarrt zu werden. Nach der Schule wurde man wieder in einen Schulbus gesetzt um nach Hause gefahren zu werden. Das war schon einmal ein deutliches Zeichen für mich, einen Teil von meiner Selbstständigkeit verloren zu haben. In den ersten Wochen gruselte ich mich davor, in den Schulbus Tag für Tag einsteigen zu müssen. Denn es waren ja meine Sinne in den Jahren, in denen ich noch mit Brille sehen konnte, nicht allzu gut geschärft worden.

Unterschiedliche Stimmen

Die vielen unterschiedlichen Stimmen, die mich jeden Morgen begrüßten, lösten in mir große Ängste aus. Es fiel mir schwer, die Stimmen dem jeweiligen Kind zuzuordnen. Die zweite Furcht kam dann auf, wenn wir aus dem Bus ausstiegen, um den Weg ins Schulgebäude zu gehen. In den ersten Tagen führten mich helfende Hände ins Gebäude und in die Klasse. Nach 14 Tagen, meinte dann die Lehrerin zu meinen Klassenkameraden, dass ich dies nun mal alleine probieren sollte, sie sollten mich also nicht mehr an die Hand nehmen.

Das Wissen, von nun an alleine den Weg ins Gebäude und in die Klasse zu finden zu müssen, löste in mir panische Ängste aus. Ich stellte mir vor, mich auf dem Schulgelände verlaufen zu können. War ich es doch nicht gewohnt, mich mit den Füßen, Händen und dem Gehör zu orientieren. Die anderen Kinder, die schon seit ihrer Geburt nichts sehen konnten, bewegten sich, als hätten sie nie etwas anderes getan. Es war unglaublich, wie sie das taten. Manche liefen so schnell durchs Schulgelände und Schulgebäude, dass man nicht auf die Idee kam, dass sie nichts sehen konnten.

Wie machten sie das bloß, fragte ich mich?

Aber mit der Zeit übernahmen meine anderen Sinne das fehlende Augenlicht. Die erste Hürde war nun genommen, ich konnte mich nun auf meine Sinne ein wenig verlassen. Nun hieß es, sich an die Brailleschrift heran zu wagen.

Zusammen mit einer speziell ausgebildeten „Sonderschulpädagogin“ sollte ich auf dem schnellst möglichen Weg die Brailleschrift erlernen. Dazu zogen wir uns in einen separaten Raum zurück. Sie stellte mir eine Braillemaschine vor die Nase und führte meine Hände zu den Tasten.

Ich wagte nicht zu atmen, weil sich in mir eine völlige Unruhe breit machte. Meine Finger fingen dann sehr zaghaft an, jede einzelne Taste zu berühren. Die Lehrerin fragte mich dann: „Fällt Dir etwas an dieser Maschine auf?“ „Ja“, sagte ich! „Die Maschine hat 7 Tasten!“ „Richtig!“, erwiderte sie. Sie erklärte mir, dass nur 6 Tasten für die Braillepunkte gebraucht werden. Die siebte Taste sei nur dafür da, einen Zwischenraum zwischen die Wörter zu setzen. Dann zeigte sie mir, was noch alles an dieser Maschine zu finden ist. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass man mit diesem Ungetüm von Maschine überhaupt etwas schreiben konnte. Wie sollte das funktionieren, fragte ich mich innerlich.

Sehr bald erfuhr ich die Lösung meiner Frage. Sie zeigte mir, wie man das Blatt in die Maschine einspannt. Über eine Walze, die im Gehäuse der Maschine befestigt ist, wird dann das Papier in die Maschine eingedreht. Ein Prägekopf, der mit den Tasten verbunden ist, stanzt die Brailleschrift in das Papier. Nachdem sie mir nun die Handhabung dieser Braillemaschine gezeigt hatte, ging es daran, die Brailleschrift als Solches zu erlernen.

Brailleschrift besteht aus 6 Punkten

Sie erklärte mir, dass die Brailleschrift nur aus 6 Punkten bestehe. Aus den 6 Punkten würde man jeden Buchstaben des Alphabetes und alle Satzzeichen zusammen stellen können. Wie sollte dies funktionieren, fragte ich mich? Sie erzählte mir dann, dass die Brailleschrift nach dem Erfinder benannt worden ist: Louis Braille, geboren am 4. Jänner 1809 in Coupvray, gestorben am 16.1.1852 in Paris. Sie erzählte weiter, er sei mit drei Jahren durch einen Unfall, in der väterlichen Werkstatt erblindet.

Mit 16 Jahren hat er anhand der Nachtschrift vom „französischen Artillerie Offizier Charles Barbier“ die heutige Brailleschrift entwickelt. Die Brailleschrift wird heute fast auf der ganzen Welt an den Blindenschulen gelehrt. Sie reichte mir einen Bogen Papier, auf welchen das Braillealphabet gedruckt war. Ich fuhr mit dem rechten Zeigefinger über das Blatt. Ich fühlte nur viele Punkte. Sie zeigte mir, dass man mit dem linken Zeigefinger die Zeilenrichtung halten kann.

„Das Lesen fiel mir unheimlich schwer“

Innerlich fing ich zu frieren an, da mir nun bewusst wurde, dass jetzt viel Arbeit auf mich zukam. Ich begriff relativ schnell, wie die Punkte angeordnet sind, wenn ich z. B. den Buchstaben „r“ zu schreiben hatte. Das Lesen mit dem Finger jedoch fiel mir unheimlich schwer. Meine Fingerspitzen mussten erst dafür sensibilisiert werden. Darum dauert das Lernen der Brailleschrift bei einem blinden Menschen um etliches länger als bei einem Sehenden. Denn sehende Menschen lernen die Brailleschrift mit den Augen sehr schnell. Anfänglich glaubte ich, ich würde die Brailleschrift nie lesen können.

Das Schreiben auf der Maschine ging schneller voran als das Lesen mit den Fingern. Zu der Braillevollschrift gibt es noch eine Kurzschrift, die ich dann noch zusätzlich lernen musste. Meine Klassenkameraden hatten dies bereits in den fünf Jahren ihrer Schulzeit Stück für Stück beigebracht bekommen. Ich sollte dies nun in einem Zeitraum von drei Monaten so einigermaßen können.

Viele Tränen

Es gab deswegen viele Tränen, aber irgendwann erspürten meine Finger die einzelnen Punkte. Von da an war kein Brailleschriftbuch mehr vor mir sicher. Ich lieh mir im Laufe der Zeit alle Bücher der Schulbibliothek aus. Diese erneut erworbene Freiheit, lesen und schreiben zu können, machte mich innerlich wieder zu einem lebensfrohen Menschen.

Ich dankte „Louis Braille“ jeden Tag dafür, dass er eine solch wunderbare Erfindung zustande gebracht hatte. Ohne ihn hätte ich wohl nie wieder lesen und schreiben gekonnt. Mein Hobby, Briefe zu schreiben, hätte ich dann für immer begraben müssen. Sicher hätte ich die Briefe auch auf eine Kassette sprechen können, aber das wäre wahrhaftig nicht das selbe für mich gewesen. Ich liebe es noch heute, die Bücher in Brailleschrift zu lesen. Denn so fühle ich mich dem Inhalt des jeweiligen Buches einfach viel näher.

Ohne die Brailleschrift hätte ich auch nie einen Beruf erlernt, da ich keine Texte hätte verfassen können. In meinem Beruf als Erzieherin ist es eine Notwendigkeit, lesen und schreiben zu können. Die Kinder wollen Bücher vorgelesen bekommen. Dies könnte ich nicht, wenn es keine Schrift für uns Blinde gäbe. Ohne diese Schrift würde ich mich nur als halber Mensch fühlen. So ist die Brailleschrift für uns Blinde ebenso wichtig geworden, wie die Schrift für die Sehenden.

Heutzutage kann man sich nicht mehr vorstellen, dass es einmal eine Zeit gab, wo es kein geschriebenes Wort gab, denn die „Schwarzschrift“, wie sie unter uns Blinden genannt wird, und die „Brailleschrift“ haben uns Blinden wie auch den Sehenden den Horizont erweitert.

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