Wie die Faulenstraße ihren Namen erhielt

Bei der Kundgebung im Rahmen des diesjährigen Bremer Protesttages gegen Diskriminierung Behinderter hat Horst Frehe vor mehr als 1000 ZuhörerInnen eine Rede gehalten, in der er ein altes Bremer Märchen neu erzählt hat.

Horst Frehe
selbst aktiv

Dicke und Dünne, Kluge und Dumme findet man wohl überall in Stadt und Land. Aber Eltern mit sieben behinderten Kindern, wie es Vorzeiten in Bremen war, kommen wohl nur einmal vor.

Ein Bauernehepaar hatte einen blinden Sohn, der seinen ganzen Tag auf der Bank vom Haus verbrachte, eine gehörlose Tochter, die nichts verstand, was man ihr auftrug, einen geistig behinderten Sohn, der nur Unsinn im Kopf hatte, eine gelähmte Tochter, die das Bett nicht verließ, einen spastischen Sohn, der vorübergehende Leute mit Fratzen erschreckte, eine Tochter mit enstelltem Gesicht, das die Eltern sie wegen ihrer Häßlichkeit in den Stall verbannten und einen Sohn, der so zitterte, daß er kein Glas halten konnte. Während sich die Eltern für sieben Mäuler abrackerten, saßen diese Kinder in der Sonne, taten nichts, stellten allerhand Unsinn an und warteten bis die Eltern Zeit für sie hatten. Sie bekamen daher bald von den Nachbarn den Spitznamen: ”Die sieben Faulen”. Eines Tages waren die Eltern so erbost über das, was sie wieder angestellt hatten und so erschöpft von der harten Arbeit auf dem Hof, daß sie ihre Kinder aus dem Haus warfen. Diese packten darauf ihre sieben Sachen und zogen am nächsten Morgen mit Sack und Pack davon.

Über Jahr und Tag geschah es

dann aber doch, daß sie wiederkamen und die Eltern erkannten sie kaum wieder. Der blinde Sohn hatte lesen und schreiben gelernt in einer besonderen Schrift mit kleinen Nadelpunkten und hatte jemanden der ihn begleitete und vorlas. Die gehörlose Tochter hatte eine Sprache mit allerlei grazilen Bewegungen erfunden, die von den anderen um sie herum wunderbar verstanden wurde. Der geistig behinderte Sohn hatte das Handwerk des Zimmermanns erlernt, das ihm der spastische Bruder mit viel Geduld gelehrt hatte.

Er selbst hatte sich einen Pferdewagen gebaut, der so niedrig war, daß er ihn selbst ohne Mühe besteigen konnte. Für die gelähmte Tochter hatten die Geschwister einen Rollwagen erfunden, mit dem sie überall hin konnte und dazu Rampen an das Haus gebaut, Wege geebnet und Möbel gebastelt, daß sie den Haushalt alleine bewerkstelligte. Die gar nicht mehr so häßliche Schwester half ihrem zittrigen Bruder und begleitete ihn überallhin.

Sie waren zusammen diejenigen, die planten und überwachten und Ratschläge gaben, wenn etwas nicht so ganz klappte. Kaum waren sie wieder Zuhause, packten sie die Arbeit auf dem Hof an und schufen in kurzer Zeit ein blühendes Anwesen, zu dem die Nachbarn gerne kamen, zum Gucken, zum Klönen oder um sich einen Rat zu holen. Ihren Namen: ”Die Sieben Faulen” behielten sie und die Straße, in der sie lebten, ist noch heute nach ihnen benannt.

So wie unsere Vorfahren

ihre Chance ergriffen, als sie mit gleichen Rechten an der Gesellschaft aktiv teilhaben wollten, so fordern wir unseren Teil an der Gesellschaft ein – nicht um faul in der Sonne zu liegen, sondern um unseren Beitrag leisten zu können. Wir, die sieben Faulen, haben unser Etikett als ”nutzlose Esser” weg. Aber wenn wir uns mit der erforderlichen Assistenz unsere Lebensräume erobern, dann kann uns keiner mehr wegschieben, uns erst in Heime und Anstalten verbannen, um uns dann in den Tod schicken.

Wenn wir uns die notwendige Assistenz für den Alltag sichern (können), die uns auch einen Beruf ermöglicht und die Freizeit gemeinsam mit nichtbehinderten verbringen läßt, wenn wir das Verkehrssystem so bauen, daß wir uns in ihnen bewegen können und zum normalen Straßenbild dazugehören, wenn wir unser Wohnumfeld so bauen, daß es alle ohne große Schwierigkeiten nutzen können, wir von allen andern gleich geachtet werden (Gleichstellung), wie sie auch, dann haben wir das umgesetzt, was die ”Sieben Faulen” in meinem Märchen erreicht haben. Dann haben wir wirkliche Gleichstellung erreicht!

Bis dahin müssen wir noch so manche Demonstration machen, so manches mal den Politikern auf den Hacken stehen und so manches Vorurteil geduldig ausräumen. Packen wir es an!

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