Wie ich mein Leben und meine Behinderung meisterte!

Ich heiße Norbert Bettstein und bin 24 Jahre alt. Seit Geburt leide ich an einer schweren Muskelerkrankung, die sich Muskeldystrophie (Duchenne) nennt.

Diese Erkrankung wird durch Vererbung weitergegeben. Die Symptome werden gelegentlich bereits im 1. Lebensjahr bemerkt, und zwar an einer relativen Bewegungsarmut. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich aber um den ersten Patienten in der Familie, und die Diagnose wird entsprechend erst im 3. oder 4. Lebensjahr gestellt. Bei mir fing die Krankheit so an:

Wenn ich auf dem Boden saß,

mußte ich zu einer Wand rutschen, damit ich meine Beine an der Wand abstützen konnte. Danach stütze ich meine Hände auf die Knie, damit ich aufstehen konnte. Doch je älter ich wurde, desto schlimmer wurde meine Behinderung. Ich fiel andauernd hin, da die Kraft in meinen Beinen nachließ. Manchmal verletze ich mich beim Sturz auch, schaffte es aber immer wieder mit eigener Kraft aufzustehen.

Jedoch eines Tages hatte ich wieder einen Sturz, konnte aber nicht mehr selbst aufstehen. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich mich nur noch mit dem Rollstuhl vorwärts bewegen; ich war damals 10 Jahr alt.

Nun war es aber für mich und meine Mutter sehr schwer,

denn wir mußten uns in punkto Körperpflege umstellen. Natürlich waren wir auch psychisch angeschlagen. Vor allem ich, weil ich nicht damit fertig wurde, daß ich manche Sachen nun nicht mehr machen konnte. Ganz besonders die Tatsache, daß ich nicht mehr gehen konnte, machte mir zu schaffen. Zum Glück konnte ich mit eigener Kraft den Rollstuhl vorwärts bewegen.

Als ich noch gehen konnte, hatte ich sehr viele Freunde. Doch als die sogenannten Freunde erfuhren, daß ich im Rollstuhl sitze, ließ sich bei mir keiner mehr blicken. Diese Erkenntnis war für mich sehr bitter, weil ich mich wie ein Ausgestoßener fühlte, und mir meine Freunde zu verstehen gaben, du bist behindert und daher unerwünscht. Wenn ich mit meiner Mutter spazieren fuhr, wurde ich von anderen Kinder, die gesund waren, verspottet und ausgelacht, weil ich im Rollstuhl saß und nicht so war wie sie.

Dieses Verspotten macht mich ganz traurig,

daher fuhr ich nicht mehr spazieren, weil ich diesen Verspottungen nicht mehr ausgesetzt sein wollte. So habe ich erfahren, wie grausam andere Kinder sein können, die nicht behindert sind. Natürlich ging ich auch in die Schule und zwar in die Sonderschule. Der Direktor meinte, daß ich in einer normalen Schule nicht mitkäme, was sich später als unrichtig herausstellte.

Dann bekam ich von meinem behandelnden Arzt sogenannte stärkende Tabletten, die meine Krankheit stoppen sollten. Die Wirksamkeit blieb jedoch aus. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als gegen meine Behinderung anzukämpfen, die immer schlechter wurde. Also tat ich alles, was ich konnte, auch wenn es noch so weh tat und schwer war. Ich setzte mich im Bett selbst auf, rutschte vom Rollstuhl ins Bett, spielte Tischtennis und trainierte meine Hände mit Rollstuhlfahren. Das, was ich nicht mehr machen konnte, mußte meine Mutter übernehmen z. B. An- und Ausziehen, Baden, WC usw. Es gab aber noch ein Problem. Ich hatte einen kleinen Bruder, der auch diese Behinderung hatte, aber viel stärker als ich.

Meine Mutter mußte nun mit zwei behinderten Kindern fertig werden, was natürlich sehr schwierig war.

Von meinem Vater konnten wir keine Hilfe erwarten,

denn er akzeptierte uns nicht als seine Kinder. Liebe hatte ich von meinem Vater auch keine bekommen. In Gegenteil, er schlug mich sehr oft, obwohl ich schwer behindert war. Wenn meine Mutter etwas dagegen sagte, wurde auch sie geschlagen, besonders, wenn mein Vater alkoholisiert war, und das kam sehr oft vor, denn mein Vater war Alkoholiker. Als ich 13 Jahre alt war, verließ er uns, was für uns nur gut war. Denn wir waren von ihm nur tyrannisiert worden.

Mein Bruder war erst 6 Jahre alt, als er in den Rollstuhl kam. Jetzt mußte er damit fertig werden, daß er nicht mehr gehen konnte und daß unser Vater uns verlassen hatte. Bei meinem Bruder schritt die Krankheit schneller voran, weil er kein Kämpfer war – so wie ich.

Der Kampf gegen meine Krankheit wurde im Laufe der Zeit immer schwieriger. Das Fahren mit dem Rollstuhl wurde auch anstrengender, weil die Kraft in meinen Händen immer weniger wurde. Mit etwa 15 Jahren konnte ich nicht mehr mit dem normalen Rollstuhl fahren, weil ich einfach keine Kraft mehr dazu hatte. Jetzt waren wir gezwungen, einen Elektrorollstuhl für mich anzufordern, damit ich mich selbst wieder vorwärts bewegen konnte.

Der Gesundheitszustand meines Bruder wurde schlechter, bedingt durch seine Behinderung. Mit 17 Jahren machte ich dann die Hauptschule in Wiener Neustadt als Externist nach. Vier Jahre später kam ich dann in die Ungargasse, wo ich einen Lehrgang für Bürokaufmann absolvierte.

Während dieser Zeit verschlechterte sich der Gesundheitszustand meines Bruders zusehends. Mein Bruder konnte nur mehr im Bett liegen, weil er keine Kraft mehr zum Sitzen hatte. Man kann sagen, er war ein richtiger Pflegefall. Er aß auch fast nichts.

Das war für mich und meine Mutter sehr deprimierend. Diese Behinderung hatte auch bereits seine Atmungsorgane angegriffen, was zur Folge hatte, daß er nicht aushusten konnte, und dadurch immer verschleimt war. Da er oft verschleimt war, mußte er im Krankenhaus abgesaugt werden.

Als ich mit dem Lehrgang fertig war, war mein Bruder bereits in einer sehr schlechten Verfassung. Eines Tages mußten wir meinen Bruder ins Spital führen, weil er wieder sehr verschleimt war und keine Luft bekam. Dort wurde er wieder abgesaugt. Doch seine Atmung wurde schlechter und auch das Herz schlug schwach. Am 29. August ist mein Bruder an einem Herzversagen gestorben, was mich und meine Mutter sehr traf. Wir haben sehr lange gebraucht, um damit fertig zu werden. Aber das Leben ging weiter. Mein Bruder war erst 16 Jahre alt.

Monate später mußte ich ins Krankenhaus.

Dort wurde festgestellt, daß mein Herz und meine Atmungsorgane nicht in Ordnung sind, weiters hatte ich Wasser in den Beinen, weil mein Herz zu schwach war.

Außerdem waren meine Sauerstoffwerte auch nicht in Ordnung. Deswegen bekam ich am Tag reinen Sauerstoff und in der Nacht wird meine Atmung durch ein Beatmungsgerät unterstützt. Mittlerweile benötigte ich am Tag keinen Sauerstoff mehr, aber das Beatmungsgerät ist mir geblieben. Zwei Monate vor Weihnachten mußte ich abermals ins Krankenhaus – wegen einer Bronchitis.

Da ich nicht aushusten konnte, war ich ziemlich stark verschleimt und es bestand Gefahr, daß ich Erstickungsanfälle bekomme. Darum mußte ich 14 Tage im Spital bleiben. Durch Inhalieren und Tabletten konnte die Bronchitis geheilt werden.

Jetzt bin ich 24 Jahre alt und sehr selbstbewußt.

Die Scheu vor fremden Menschen habe ich im Laufe der Zeit abbauen können. Ich fahre selbst einkaufen und wenn ich Hilfe brauche, spreche ich irgendeinen Menschen an, der mir behilflich sein kann. Natürlich kommt es auch vor, daß mir jemand nicht hilft, aber dadurch lasse ich mich nicht verunsichern, denn es gibt ja noch andere, die einem helfen. Man sollte sein Leben so nehmen, wie es ist, auch wenn es noch so hart ist. Denn wenn man andauernd sagt, Mensch, bin ich arm, oder fragt, warum bin gerade ich behindert, ändert man ja auch nichts an seiner Lage. Es ist besser, man macht das Beste daraus, wird selbstbewußter und traut sich einfach mehr zu. So wie ich, denn ich habe es geschafft, mit meinem schweren Leben und meiner Behinderung fertig zu werden.

Ich unternehme sehr viel mit dem Elektrorollstuhl, ich benütze die U-Bahn, besuche Kinos und spiele Tischtennis, obwohl es für mich sehr anstrengend ist. Das Wichtigste ist aber, daß man gegen seine Behinderung ankämpft und nicht resigniert.

Nachtrag der Redaktion:

Kurz nachdem Norbert diesen Artikel an uns geschickt hat, ist er überraschend verstorben. Wir haben mit ihm einen Freund verloren. Das BIZEPS-Team

„Menschen zu finden, die mit uns fühlen und empfinden, ist wohl das schönste Glück auf Erden.“ Carl Spitteler

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