Wie selbstbestimmtes Leben beginnen und gelingen kann

Als "lebender Lotto-Sechser" geboren, wie ich salopp meine Behinderung gerne nenne, weil mit Mutter und Vater eine genetisch seltene Mischung entstand, die mich mit spinaler Muskelatrophie auf die Welt brachte. Das passierte gleich zweimal.

Andrea Mielke
Andrea Mielke

Mein Bruder und ich wuchsen auf mit der ärztlichen Prophezeiung einer maximalen Lebenserwartung von 18 bis 20 Jahren. Wir konnten nie gehen, stehen oder uns selbst aufsetzen und wurden zeitlebens durch die Welt getragen, bis wir die ersten Rollstühle bekamen.

Die Heimerfahrung

Die allerschrecklichste und schmerzvollste Erfahrung und damit meine erste Überlebensprüfung, war der Eintritt als 7-Jährige in ein Behindertenheim, 300 km entfernt von Zuhause. Schulintegration damals noch kein Thema, blieb mir nur die klassische Heimkarriere mit integrierter Schule.

Reduziert auf Bett und Nachtkasten. Klogänge und Wascheinheiten reglementiert und die Flüssigkeitszufuhr auf ein Minimum gesetzt, damit man ja nicht zu oft aufs WC gehoben werden musste. Wie war es doch ekelhaft, heimlich aus den feuchten Waschlappen die Nässe herauszusaugen.

Aber Kinder sind kreativ und halten viel aus, wenn es keine Alternative gibt. Als einziges Signal meiner Individualität wurde mir sofort mein geliebter rosa Puppenwagen konfisziert. Namensschilder in die Kleidung und Unterhosen genäht und zur Gleichmachung mussten wir alle Schürzen über dem Privatgewand tragen.

Ich erfand in dieser Zeit Spiele mit mir selbst für die vielen, vielen Stunden, die ich wegen Aufmüpfigkeit (ich weigerte mich, das lieblose Essen aufzuessen) und Ungehorsam in der Ecke stand.

Mein nächtliches Abendgebet lautete: „Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich hier wieder raus komme!“

Drei lange Jahre dauerte es, bis mein Kinderhilferuf sich erfüllte. Damals schwor ich mir selbst, nie mehr wieder so etwas mit mir geschehen zu lassen. Der Weg der Selbstbestimmung begann.

Wie es nach dem Heim weiterging

Zuerst ging es für mich darum, innerlich stark zu werden, viel Selbstbewusstsein und ein Übermaß an Mut zu entwickeln, um den Widrigkeiten und negativen Prognosen zu trotzen. Vor allem Wünsche zu formulieren und Träume zu wagen. Auch die Befreiung von einer mütterlichen Alleinherrschaft über mich und meinen Körper, war ein brennendes Thema und absolut notwendig.

In dieser Zeit, als ich gerade 16 und mitten in der Pubertät war, starb mein Bruder mit 14 Jahren an einer Erkältung …

Mein Lebensantrieb

Somit begann mein „Überlebenskonzept“ schon sehr früh und ich las bereits als 22-jährige junge Frau Bücher von Elisabeth Kübler-Ross. Wenn einem gesagt wird, das man nicht viel Zeit hat, muss man die verbleibende umso besser nützen.

Carpe Diem wird hier zum allumfassenden Leitspruch auf allen Ebenen und für alle Wünsche. Mein Koffer an Wünschen war übervoll, die Kreativität zur Umsetzung und die dazugehörigen Möglichkeiten musste ich allerdings erst finden und entwickeln. Oft musste ich für diese auch kämpfen.

Mehr als 30 Jahre später

Heute bin ich 46 stolze Jahre, Sozialarbeiterin und führe seit 1983 ein selbstbestimmtes Leben. Ich leite meinen eigenen Assistenzbetrieb mit derzeit 10 persönlichen Assistentinnen und Assistenten, die rund um die Uhr für mich arbeiten, nach dem Arbeitgebermodell.

Ich lebe in meiner selbst strukturierten Welt, in meiner Wohnung mit vollen Bücherschränken und bunt bemalten Wänden. Ich liebe die Sonne und stille Stunden. Frau zu sein und mich trotz meines verkrüppelten Körpers zu zeigen, ist mir sehr bedeutsam. Als Frau mit angeborener Behinderung ist der Weg zur eigenen bewussten Weiblichkeit harte Arbeit.

Das tägliche Werken, Wirken und Lernen

Ich trage Schmuck und Parfum auf, erkläre meinem neuen Assistenten, wie er Gesichtswasser und Augencreme richtig verwendet und dass er mir behutsam die hauchdünnen Sommer-Trägerkleidchen anziehen muss. Was der Unterschied zwischen einem BH- und einem Bikini-Verschluss ist, lernt er auch gerade.

Bald begleitet er mich eine Woche auf Urlaub, da muss er geschickt in weiblichem Outfit werden. Manchmal geht mir bei den vielen Erklärungen und Anleitungen die Geduld aus, bin ich doch gerade bei der 81. Assistenten-Einschulung angelangt. Da hilft nur, mich selbst in Gelassenheit und Disziplin zu üben.

Mit der wenigen Muskelkraft, die noch in den Händen übrig ist, gelingt es mir an guten Tagen zu malen, per Hand zu schreiben, noch selbst zu essen, wenn der Arm richtig gestützt und das Essen fuziklein geschnitten ist, oder meinen Partner zu streicheln, wenn er meine Hand dort platziert, wo ich sie auf ihm haben will. Das sind glückvolle Stunden. Das ist geglücktes Leben.

Ich habe meine Lebensart gefunden und dabei gelernt, das Beste für mein selbstbestimmtes Leben umzusetzen.

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