Wie viele jüngere behinderte Menschen müssen in Wiener Geriatriezentren leben?

Durch Medienberichte und eine Aussendung der Interessensvertretung sozialer Dienstleistungsunternehmen 
für Menschen mit Behinderung in Wien (IVS) wurde publik, dass derzeit viele behinderte Menschen in Geriatriezentren leben müssen.

Ortschild mit Aufdruck Wien
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Neu ist das Faktum natürlich nicht, doch das Ausmaß des Problems ist in Wien um ein Vielfaches größer, als in den schlimmsten Vermutungen angenommen.

„Mit 41 im Seniorenheim / Für jüngere Behinderte fehlen Betreuungseinrichtungen. Die Stadt verspricht Lösung“, berichtete der Kurier vor wenigen Wochen und führte aus: „Kritik kommt deshalb von der Volksanwaltschaft. Der Status quo verletze Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, ‚nach der Menschen mit Behinderungen das Recht auf eine freie Wahl der Wohnform haben’. Von der Stadt Wien fordert die Volksanwaltschaft daher, ‚entsprechende Betreuungs- bzw. Assistenzdienste gemeindenahe zur Verfügung zu stellen’.“

Weiters wurde bekannt, dass der Krankenanstaltenverbund (KAV) sogar neue Pilotstationen plant. Die IVS Wien sprach sich in einer scharfen Aussendung entschieden gegen Spezialstationen in Geriatriezentren aus.

Alle Fakten und Einschätzungen auf den Tisch

Um Licht in die kaum fassbaren neuen Fakten und Pläne zu bringen, fragte BIZEPS telefonisch bei der Pressestelle des Krankenanstaltenverbundes (KAV) nach und bat um detaillierte Informationen, die nun schriftlich vorliegen. „Es handelt sich dabei um eine Antwort des KAV unter Beiziehung des FSW“, teilt der KAV am 13. September 2013 per Mail mit.

Die Antworten sind teilweise so verstörend und die Fakten derart brisant, dass wir uns als ersten Schritt entschlossen haben, den Antworttext zur Gänze hier widerzugeben:

Schriftliche Antworten des KAV

Um wie viele Menschen geht es?

BIZEPS-INFO Frage 1: Stimmen die vom IVS angeführten Zahlen, dass 230 behinderte Menschen unter 60 Jahren derzeit in den Wiener Geriatriezentren untergebracht sind und weitere 130 in Ybbs in NÖ?

KAV: Aktuell leben in den Pflegeeinrichtungen des KAV im September 2013 rund 220 Personen unter 60 Jahren (ohne Spezialstationen wie Wachkomastation, langzeitbeatmete PatientInnen, etc.) untergebracht. Dazu kommen 79 Personen aus dieser Gruppe, die im sozialtherapeutischen Zentrum Ybbs leben.

Notaufnahme oder Dauerzustand?

BIZEPS-INFO Frage 2: Wie viele der bei ihnen untergebrachten Menschen unter 60, wurden in andere Angebote der Behindertenhilfe transferiert? Und nach welchem Zeitraum?

KAV: Unserem Auftrag gemäß werden bei uns Bewohnerinnen und Bewohner betreut, die eine stationäre Langzeitpflege, therapeutische Maßnahmen und eine laufende medizinische Betreuung, unabhängig vom Lebensalter, rund um die Uhr benötigen.

Entspricht die Betreuung in einem Pflegewohnhaus oder Geriatriezentrum nicht mehr dem Bedarf, wird von SozialarbeiterInnen in den Häusern ein Wechsel in eine niederschwelligere Einrichtung angestrebt. Auch hier steht das Casemanagement des Fonds Soziales Wien bereit. Ob und wann Menschen in andere Einrichtungen übersiedeln können, kann nicht von vornherein gesagt werden. Das hängt vom individuellen Bedarf ab.

KAV plant neue Pilotstationen

BIZEPS-INFO Frage 3: Was waren die Hintergründe für das geplante Pilotprojekt? Warum kam es dazu?

KAV: Die geplanten Pilotstationen sollen Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung stehen, die den Kriterien der Antwort 2 entsprechen, bereits in einem Geriatriezentrum und Pflegewohnhaus aufgenommen sind, aber andere Angebote als über 60-Jährige benötigen.

In keiner Weise soll hier eine antiquierte Betreuungsform für Menschen mit Behinderung geschaffen werden. Ziel ist es, jüngeren Bewohnerinnen und Bewohnern, die schwer chronisch krank sind, ein Lebensumfeld zu schaffen, das den psychosozialen Bedürfnissen dieser Altersgruppe entspricht.

Als Hinweis auf unsere Intentionen darf ich in Erinnerung rufen, dass wir diesen Zielsetzungen folgend das Förderpädagogische Zentrum auf der Baumgartner Höhe im Sinne der Gemeinwesenintegration in den letzten Jahren schrittweise geschlossen haben und Menschen mit Behinderung in Einrichtungen von Trägern der Behindertenhilfe übersiedelt sind.

Widerspricht dies der UN-Konvention?

BIZEPS-INFO Frage 4: Ist das Pilotprojekt ihrer Meinung nach mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar?
(Bitte um Stellungnahme zum nachfolgenden Absatz in der Aussendung des IVS: „Österreich hat sich zur Einhaltung der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet. Doch anstatt die Ratifizierung zum Anlass zu nehmen, ein Maßnahmenpaket zu schnüren und adäquate gemeinwesenintegrierte Betreuungsplätze für diese Personengruppe zu schaffen, plant der KAV nun ein Pilotprojekt, im Rahmen dessen für zunächst 50 Personen zwei Spezialstationen in zwei Geriatriezentren in Wien errichtet werden sollen. Offensichtlich soll im institutionellen Rahmen eines geriatrischen Krankenhauses ‚normales Leben’ für junge Menschen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen simuliert werden. Für die Expert/innen der IVS Wien stellt dies ein hochgradig antiquiertes Betreuungsmodell dar, das an Konzepte der 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erinnert.“)

KAV: Das Pilotprojekt ist mit der UN-Behindertenkonvention absolut vereinbar, Zielgruppe des Pilotprojektes sind Menschen, die durch Krankheit stationär pflegebedürftig sind, ein Angebot an Therapie und laufender medizinischer Betreuung benötigen und darüber hinaus unter 60 Jahre alt sind.

Dem Fonds Soziales Wien liegt noch kein Konzept für dieses Projekt vor, deswegen können die ExpertInnen dort es nicht im Detail beurteilen. Wir haben dennoch folgende Stellungnahme zur vorliegenden Anfrage erhalten:

FSW: Grundsätzlich begrüßen wir, dass der KAV sich mit der Weiterentwicklung seines Angebots in dieser Richtung beschäftigt. Gerade im Sinne der UN-Konvention und der sich daraus ergebenden Verpflichtungen wäre es geradezu verantwortungslos von Pflegeeinrichtungen, sich zu diesem Thema keine Gedanken zu machen. Menschen mit Behinderung steht schließlich ein gleichberechtigter Zugang zu Leistungen der Gesundheitsversorgung und altersbedingten Versorgungsangeboten zu (siehe insbesondere Artikel 25, Artikel 28).

Die UN-Konvention spricht sich also keineswegs gegen Pflegeeinrichtungen aus. Die Betreuung pflegebedürftiger Menschen in Pflege- und Betreuungseinrichtungen ist durchaus möglich – unabhängig davon, wie der Pflege- und Betreuungsbedarf entstanden ist, ob nun altersbedingt, aufgrund einer chronischen Erkrankung oder durch einen Unfall.

Entscheidend ist, was zielführend und sinnvoll für den pflegebedürftigen Menschen ist und welche Leistungen individuell benötigt werden. Dies wird gemeinsam mit KundInnen, SachwalterInnen, Vertretungsbefugten und Angehörigen im Case Management des FSW erarbeitet. Der entscheidende Faktor ist also viel weniger das Alter, sondern in erster Linie der Bedarf. (Es leben auch bereits rund 250 Menschen mit Behinderung in Einrichtungen der Behindertenhilfe, die das SeniorInnenalter überschritten haben).

Es bleibt also die Frage, ob das Ausspielen von Pflegeeinrichtungen gegen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung bzw. die Diskussion um KundInnen mit individuellen Bedarfslagen über deren Köpfe hinweg im Sinne der UN-Konvention ist. Ganz sicher ist eine solche Diskussion nicht im Sinne der Wiener Sozialpolitik: Wir sind sehr stolz darauf, dass in der vielfältigen Wiener Soziallandschaft die Suche nach individuellen Lösungen über Einrichtungsgrenzen hinaus möglich und üblich ist.

Keine Alternativen?

BIZEPS-INFO Frage 5: Welche Bemühungen gab es, die Zielgruppe in anderen „regulären“ Angeboten der Behindertenhilfe unterzubringen?

FSW: Wir sprechen hier nicht über eine homogene Zielgruppe, sondern über Menschen mit unterschiedlichen Bedarfslagen. Allen gemeinsam ist der Pflege- und Betreuungsbedarf, aber auch der ist individuell unterschiedlich.

Pflegewohnhäuser, seien es jene des KAV, der Häuser der Barmherzigkeit, der Caritas oder andere, sind „reguläre“ Einrichtungen, in denen Menschen mit Pflege- und Betreuungsbedarf gepflegt und betreut werden (siehe Frage 4).

BIZEPS-INFO Frage 6: Wer entscheidet, welche Menschen in die Einrichtungen des KAV kommen?

FSW: Ganz im Sinne der UN-Konvention entscheiden das die KundInnen selbst – gemeinsam mit dem Case Management des FSW und ggf. SachwalterInnen/Vertretungsbefugten und Angehörigen (siehe Fragen 4 und 5).

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