Wien, hörst du diese Signale?

Die Signale auf der am 2. und 3. März 2017 stattgefundenen Tagung der IVS zum Thema „Inklusion statt Institution? Wohnen im Sozialraum für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf“ waren laut, spannend und deutlich. Ein Kommentar.

IVS-Tagung 2017
BIZEPS

Wer die Signale leider nicht vernahm, das waren offizielle VertreterInnen der im Wiener Landtag vertretenen Parteien bzw. der Wiener Landesregierung. Sie zogen es vor, einfach gar nicht zu kommen.

Veranstalter der Tagung war die „Interessensvertretung sozialer Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit Behinderung“. (Siehe Ankündigung)

Vorbild Schweden

Unter den präsentierten neuen Ansätzen und alternativen Wohnmodellen für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf ragte die 1992 gegründete schwedische Organisation „JAG“ (Gleichberechtigung, Assistenz, Gemeinschaft) eindeutig als „best practice“ hervor.

Sie bietet „Persönliche Assistenz“ auch für Menschen mit schweren Körper- und Mehrfachbehinderungen an. In Schweden wurde bereits in den 70er Jahren über „Assistenz“ diskutiert. In den 80er Jahren wurden Heime sukzessive abgebaut. Heute wird die „Persönliche Assistenz“ in ganz Schweden angeboten.

Entwicklung Schweden: Behinderte Menschen in Heimen - 1969:14000, 1993: 2500, 2001: 170
BIZEPS

Auf diese Leistung besteht ein Rechtsanspruch. Die Höhe der „Persönlichen Assistenz“ wird jährlich der Inflationsrate angepasst. „Hier hinken wir 10 Jahre hinterher“, konstatierte Wolfgang Waldmüller. Er verwies jedoch darauf, dass in Wien immerhin „keine neuen vollbetreuten Wohneinrichtungen im Rahmen der Behindertenhilfe“ mehr gebaut werden.

Dieser Stopp ist erfreulich, wenngleich die sogenannten Pflegewohnhäuser des Wiener KAV in den letzten Jahren wie die Schwammerln aus dem Boden geschossen sind. BIZEPS hat wiederholt über den Missstand, dass hier auch viele junge Menschen mit Behinderung fehl-untergebracht sind, berichtet.

Individualisierte Unterstützung in Holland und New York

Die niederländische Organisation Pameijer bietet Unterstützung in allen Lebensbereichen. Sie legt einen Schwerpunkt auf das Knüpfen von Sozialkontakten. Für jeden einzelnen behinderten Menschen soll eine „individuelle Lösung“ gefunden werden. Dabei wird der Aufbau von „Netzwerken“ angestrebt (basierend auf dem Konzept des Nachbarschaftskreises).

water your dreams and watch them grow
BIZEPS

Dass „Persönliche Assistenz“ jedoch von ehrenamtlich tätigen Personen (z.B. Nachbarn, andere im Grätzl wohnende Menschen) geleistet wird, konnte nicht wirklich überzeugen. Es ist ein gewaltiger Unterschied, auf eine freiwillige, jederzeit enden könnende Handlung Dritter angewiesen sein zu müssen; oder als selbstbestimmter Kunde, der über ein Persönliches Budget für Persönliche Assistenz verfügt, endlich seine ihm zustehenden Menschenrechte wahrnehmen zu können. Positiv zu erwähnen ist, dass in den Niederlanden „Assistenz“ sowie ein „Persönliches Budget“ auch besachwalteten behinderten Menschen zur Verfügung steht.

„Individualisierte Unterstützung“ für Menschen mit Körperbehinderungen und Lernschwierigkeiten bietet auch die in New York ansässige Organisation The Arc, und das als 24 Stunden Service an allen 7 Tagen in der Woche. Zentrales Ziel ist die „soziale Integration“. Die Organisation verfügt über eine gute Vernetzung zu anderen Anbietern im Beschäftigungs- und Freizeitbereich.

Zwischenschritt Garconnierenverbund?

BALANCE betreibt seit 2001 den Wohnverbund Bernstein in der Donaucity im 22. Wiener Gemeindebezirk. In einem Gebäudekomplex gibt es abgetrennte Kleinwohnungen für schwer körperbehinderte Menschen, die über einen Betreuer-Stützpunkt (mit Gemeinschaftsräumen) nach Vereinbarung versorgt werden.

Dieses Angebot richtet sich an behinderte Menschen, die von einer vollbetreuten, großen Wohneinrichtung weg möchten, für die aber eine „mobile Betreuung“ zumindest derzeit noch nicht in Frage kommt. Neben dem Vorteil einer kleinen Wohneinheit mit mehr Privatsphäre als in einer Großeinrichtung, gibt es auch Kompromisse, die in Kauf genommen werden müssen. Die Mitsprache bei der Auswahl von neuen Mitbewohnern und neuem Personal ist beschränkt.

An BALANCE sind Kostenbeiträge zu richten. Leistungen sind begrenzt und mitunter mit Wartezeiten verknüpft. Es sind maximal 2 MitarbeiterInnen gleichzeitig im Dienst.

HABIT plant ein ähnliches Projekt: „Individuelles Wohnen im Garconnierenverbund“ in der Triesterstraße. Dem voraus gegangen war eine Bewohner-Befragung in den bestehenden Einrichtungen, bei der sich folgende drei Hauptwünsche herauskristallisiert haben:

  1. Ich möchte meine Wohnung selbst aussuchen.
  2. Ich möchte meine Mitbewohner selbst aussuchen.
  3. Ich möchte mehr persönliche Unterstützung.

Geplant ist 1 Verbund mit maximal 4 Wohninseln. Jede Wohninsel besteht aus 3 Kleinwohnungen und 1 Assistenzstützpunkt. Wohnen und Betreuung ist bei diesem Projekt getrennt. D.h. der behinderte Mensch (oder seine Vertretung) mietet die Wohnung an. Nur die Betreuung erfolgt durch HABIT. Auch hier zeigt sich, dass das Personal (maximal 1 – 2 Mitarbeiter pro Wohninsel) sehr knapp bemessen ist. Problematisch erscheint auch, dass geplant ist, Ressourcen durch ehrenamtliche Helfer bzw. den Sozialraum (?) aufstellen zu wollen.

Unser gemeinsames Ziel

Die Tagung war nicht nur geprägt von einem guten organisatorischen Rahmen und einem interessanten, abwechslungsreichen Programm, sondern auch von einem regen Austausch zwischen den TeilnehmerInnen, unabhängig davon, ob es sich um behinderte Menschen oder VertreterInnen von Organisationen handelte. Von einer „Annäherung“ und „Vertrauensbasis“ zwischen den Trägerorganisationen und behinderten Menschen war im Rahmen dieser Tagung öfter zu hören.

Die Vorsitzende des unabhängigen MonitoringAusschusses des Bundes, Christina Wurzinger, formulierte es zum Beispiel so: „Die UN-Behindertenrechtskonvention hat die Ziele klar formuliert. Was es jetzt braucht, ist das Zusammenwirken von Betroffenen, von Professionisten und Teilen der Zivilgesellschaft. Es braucht Allianzen und eine gemeinsame Vision.“

Toni Schmalhofer, Christina Wurzinger, Petra Flieger
BIZEPS

Dass die IVS keine Interessenvertretung von oder für behinderte Menschen ist und primär die Interessen ihrer Organisationen im Blick hat, ist klar. Dass die IVS auf der anderen Seite offiziell Selbstkritik übt und sich wiederholt und klar für die UN-Behindertenrechtskonvention und auch für Forderungen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung einsetzt, muss auch gesehen werden.

Klare Vorgaben aus Selbstbestimmt-Leben-Sicht

Das Wesentliche von „Persönlicher Assistenz“ im Sinne der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung lässt sich kurz und prägnant formulieren: „Ich bestimme, WER mich WO und WANN bei WAS und WIE unterstützt.“ Die Forderung nach bundeseinheitlicher „Persönlicher Assistenz“ beinhaltet auch die Einführung des „Persönlichen Budgets“.

Es muss zu einer Umverteilung der Macht kommen, und zwar von den Institutionen zu den Betroffenen. Wir behinderte Menschen sind die besten ExpertInnen für unsere Sache. Und mit unserem Motto „Nichts über uns, ohne uns“ können und müssen wir in den Austausch auf Augenhöhe gehen.

IVS-Tagung 2017
BIZEPS

Klare Signale an die Politik

In der kürzlich auf BIZEPS erschienen IVS-Aussendung „IVS-Wien fordert radikalen Abbau von Sonderinstitutionen“ werden die Politik und Anbieter aufgerufen, konkrete Schritte zu setzen:

  1. Auflösung aller Großeinrichtungen
  2. Ausbau mobiler Angebote
  3. österreichweite Umsetzung der Persönlichen Assistenz bzw. des Persönlichen Budgets und
  4. neues Selbstverständnis der Anbieter von Betreuungsleistungen.

Petra Flieger kritisierte im Abschlussplenum den „Fleckerlteppich in Österreich“ (9 Bundesländer, 9 verschiedene Regelungen) und vermisst „ein klares Bekenntnis der Politik zur De-Institutionalisierung, eine Strategie und entsprechende Maßnahmen“. Sie verwies auf die Ergebnisse eines Projektes, die zeigen, dass sich die Gesundheit und somit auch die Lebensqualität bei behinderten Menschen, die Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen können, deutlich steigt.

Die Frage einer Tagungsteilnehmerin nach den Präsentationen bringt die Botschaft an unsere Politiker und Politikerinnen kurz und unmissverständlich auf den Punkt: „Wie kann man das machen, dass es das auch bei uns gibt?

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Ein Kommentar

  • Sehr geehrte Frau Mag. Karner,

    als Sprecher der IVS Wien bedanke ich mich herzlich für Ihren Beitrag, erlaube mir aber folgende Anmerkung: Das von Pameijer vorgestellte Projekt aus den Niederlanden ist nicht als Ersatz für andere Unterstützungsformen gedacht. Es geht dabei auch nicht darum, dass Persönliche Assistenz durch Freiwillige geleistet werden soll. Alle Mitglieder der Netzwerke können ganz unabhängig vom Netzwerk Unterstützung unterschiedlichster Art in Anspruch nehmen (etwa im Rahmen des persönlichen Budgets oder auch durch institutionelle Anbieter). Die Nachbarschaftskreise sind ein zusätzliches Angebot, das dazu dienen soll, die soziale Integration im „Grätzl“ zu unterstützen.