Wien ist anders – insbesondere beim „barrierefreien“ Bauen!

Erst gestern forderte der Behindertensprecher der Wr. ÖVP, Mag. Franz Karl, dass die ÖNORMEN B 1600 und B 1601 für den Bereich der Wiener Bauordnung für verbindlich erklärt werden sollen; doch den zuständigen Magistratsjuristen scheint das undenkbar.

ÖNORM
BIZEPS

Für den Themenbereich „barrierefreies Bauen“ wurde nicht zuletzt dank des jahrzehntelangen Engagements behinderter ExpertInnen und TechnikerInnen im Österreichischen Normungsinstitut eine Vielzahl von sogenannten ÖNORMEN geschaffen, die (unverbindliche) Richtlinien darstellen. Kernstück des barrierefreien Bauens sind die seit 1994 existierenden ÖNORMEN B 1600 und B 1601, die im Herbst 2003 in einer überarbeiteten Auflage erscheinen sollen und so wesentliche Bereiche regeln, wie behindertengerechte Aufzüge, Toiletten, Handläufe, Gehsteigabsenkungen und vieles mehr; die ÖNORMEN V 2005 und V 2100 bis V 2106 wiederum regeln Standards für tastbare Bodenleitsysteme, tastbare Beschriftungen, Kontrastierungen für sehbehinderte Menschen, akustische Lichtsignalanlagen, behindertengerechte Baustellen- und Gefahrenbereichsabsicherungen …

Es wäre also ein Leichtes, so denkt man sich wohl ganz unbedarft, sinnvolle und effektive Bestimmungen in Baugesetzen wie der Wiener Bauordnung zu verankern; man müsste einfach regeln, dass die entsprechenden ÖNORMEN für verbindlich anwendbar erklärt werden. Doch da setzt die Vorstellungsgabe der zuständigen Magistratsabteilung 64 offenbar aus, da sie sich standhaft gegen eine solche Maßnahme ausspricht. Noch bei der letzten Sitzung Mitte Juli 2003 zu dem derzeit vorliegenden, für sinnesbehinderte Menschen diskriminierenden Bauordnungsnovellenentwurf vertrat die MA 64 die Auffassung, dass es im Wiener Landesrecht nicht üblich und auch nicht so ohne weiteres möglich sei, ÖNORMEN für verbindlich zu erklären.

Nun, ein Blick in die Sammlung der Wiener Rechtsvorschriften überzeugt uns vom Gegenteil. Dort finden sich zahlreiche Bestimmungen, die mehr als 25 verschiedene ÖNORMEN in den unterschiedlichsten Anwendungsbereichen des Wiener Landesrechts für verbindlich erklären:

  • Die §§ 2, 5 und 7 der wiener Abgas- und Emissionsgrenzwertverordnung verweisen etwa auf die ÖNORMEN C 1108, C 1109, C 1301, M 5861, M 7531 und M 7532; in § 9 dieser Verordnung wird darüber hinaus der „Stand der Technik“ als Maßstab geregelt. In der Anlage I zu dieser Verordnung wird hinsichtlich der Prüfmaßstäbe in Punkt 3.1 auch auf die ÖNORM M 7510 verwiesen.
  • In der Verordnung der Wr. Landesregierung über Beschäftigungsverbote und -beschränkungen für Jugendliche in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben wird in § 5 auf die ÖNORMEN EN 608, EN 609-1 und M 9613 verwiesen, wobei § 10 auf den jeweiligen Stand der Normen und ihr Verhältnis zu anderen technischen Standards Bezug nimmt.
  • Die Verordnung der Wr. Landesregierung über die zulässige Einleitung von kaltreinigerhältigen Abwässern in den Misch- oder Schmutzwasserkanal verweist wiederum in § 2 auf die ÖNORM B 5104.
  • In der Verordnung der Wr. Landesregierung, mit der Sicherheitsvorschriften hinsichtlich Festigkeit, Feuersicherheit, Abmessungen und Betriebssicherheit von Fahrtreppen und Fahrsteigen mit mehr als 2m Hubhöhe anerkannt werden, wird durch § 1 die ÖNORM B 2460 als Sicherheitsvorschrift anerkannt; die Verordnung hat noch dazu außer dieser Anerkennung der Önorm – also Verbindlicherklärung – keinen weiteren Inhalt.
  • Die Verordnung der Wr. Landesregierung über die Gesundheitsüberwachung in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben verweist auf die ÖNORMEN K 2500, EN 26189 bzw. ISO 8253, auf die ÖNORM EN 27566 sowie die EN ISO 389.
  • Die Verordnung der Wr. Landesregierung über den höchstzulässigen Schwefelgehalt in Heizöl verweist in § 1 auf die ÖNORMEN C 1108, C 1109 und C 1127.
  • In der Vereinbarung nach Artikel 15a B-VG über den Schutz von Nutztieren in der Landwirtschaft wird auf die ÖNORM L 5290 verwiesen.
  • Die Durchführungsverordnung zum wiener Wasserversorgungsgesetz 1960 enthält eine Verweisung auf die ÖNORMEN B 2531, B 5060, B 5170, B 5172, B 5182, B 5183, M 3548, M 5611, M 5612, M 5770 und 6070.
  • Das Wiener Veranstaltungsgesetz verweist in § 24 hinsichtlich der Ausstattung von Verbandskästen auf die ÖNORM Z 1020.
  • Das Wiener Volksabstimmungsgesetz verweist wiederum betreffend die Größe von Stimmzetteln auf die ÖNORM A 1001.
  • Es findet sich im wiener Landesrecht sogar eine Verordnung „betreffend die Anerkennung einer Önorm über Mineralöl-Abscheideanlagen“, durch die die Önorm B 5101 für verbindlich anerkannt wird. Und auch eine Verordnung über die Anerkennung Europäischer Normen als Sicherheitsvorschriften für Aufzüge gehört dem wiener Landesrecht an, durch die z. B. die ÖNORMEN EN 81 Teil 1 und EN 81 Teil 2 als verbindlich anerkannt wurden.

Es dürfte sich offenbar um einen massiven Irrtum handeln, dass die Verweisung auf ÖNORMEN in Wien nicht üblich sei. Und die Meinung, dass das nicht so ohne weiteres möglich sei, wird sogar durch eine offizielle Stellungnahme der Wiener Magistratsdirektion aus dem Jahr 2002 klar widerlegt, wo es heißt, dass statische Verweisungen auf ÖNORMEN durchaus möglich und üblich seien.

Naja, und zuletzt noch der absolute Hammer als Zugabe; in anderen Bundesländern finden wir sogar die ausdrückliche Verbindlicherklärung einschlägiger ÖNORMEN zum barrierefreien Bauen:

  • Die Burgenländische Arbeitsstättenverordnung in der Landwirtschaft regelt in § 16 die barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten und erklärt hinsichtlich wenigstens einer Toilette und eines Waschplatzes, eines Aufzuges und der für behinderte Arbeitnehmer vorgesehenen Duschen je Arbeitsstätte die ÖNORM B 1600 für verbindlich. § 33 Abs. 9 der Burgenländischen Schulbau- und Einrichtungsverordnung sieht für bauliche Maßnahmen für körperbehinderte Menschen ebenfalls die verpflichtende Einhaltung der ÖNORM B 1600 vor.
  • Das Kärntner Wohnbauförderungsgesetz schreibt für ein bestimmtes Fördervolumen und eine Fördermöglichkeit in Anlage II und IV die Einhaltung der ÖNORM B 1600 vor.
  • § 17b des Oberösterreichischen Bautechnikgesetzes beispielsweise erklärt sowohl die ÖNORM B 1600 wie die B 1601 für verbindlich anwendbar.
  • Nach § 3 Z 6 der Steiermärkischen Verordnung über ein Entwicklungsprogramm für das Wohnungswesen wird die Förderung von Wohnhäusern mit mehr als zwei Wohnungen und von Heimen an die Einhaltung der Grundsätze der ÖNORM B 1600 geknüpft.
  • Und die Vorarlberger Spitalbauverordnung schreibt in §§ 41 Abs. 3 und 42 Abs. 1 vor, dass Handläufe und die Türen zu Sanitärräumen gemäß der ÖNORM B 1600 auszuführen sind.

Es dürfte wohl sohin nicht eine Frage des „Könnens und Dürfens“, sondern bloß eine Frage des „Wollens“ sein, ob die Wiener Bauordnung durch eine Verweisung auf die in ÖNORMEN bereits ausgearbeiteten Standards für barrierefreies Bauen auf einen zeitgemäßen Standard des barrierefreien Bauens für alle Menschen mit Behinderungen gebracht wird oder nicht.

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