Wo hört die Toleranz auf?

Ausgangslage:

Von meinem Arzt kommend, bin ich auf dem Weg zur Mohrenapotheke, um meine Medikamente abzuholen. Ich überquere am Zebrastreifen den Bebelplatz und wende mich nach links zur Bushaltestelle der Linie 25. Kinder spielen auf dem Bürgersteig und weichen mir lachend aus.

Da tut es einen fürchterlichen Schlag: Mein Kopf dröhnt. Was ist passiert? Ist etwa meine Nase gebrochen? Vor mir hängt das Ende eines Rohres, das zur Leiter gehört, die hinten aus dem LKW ragt, der vor mir auf dem Bürgersteig steht. Mit meinem Blindenstock habe ich das Rohr nicht erfasst, und so bohrt sich seine Kante in meine Nase.

Passanten bringen mich in die Mohrenapotheke, wo man mir Taschentücher zum Stoppen des ständig fließenden Blutes gibt. Ich bin ziemlich durcheinander, aber eins weiß ich: Der Besitzer des LKW muß angezeigt werden! Doch wie geht das, wenn ich die Autonummer nicht lesen kann? Der Apotheker hilft mir:

Er schreibt das Kennzeichen und die Malerfirma auf und bietet mir an, für mich als Zeuge aufzutreten. Darüber bin ich sehr dankbar und lasse mich zu meinem Arzt bringen. Er staunt nicht schlecht, mich schon wieder zu sehen. Er stellt fest, dass nichts gebrochen ist und desinfiziert meine Wunden.

Die Polizei: Dein Freund und Helfer?
Nachdem ich mich zuhause vom gröbsten Schrecken erholt habe, rufe ich die Polizei an: So gut es geht, schildere ich den Sachverhalt. Ich erwähne, daß ich blind bin und mit dem Stock Hindernisse in Augenhöhe nicht erfassen kann. Daraufhin der Polizist: „Da können wir nichts machen. Wie wollen Sie denn beurteilen, daß der LKW ordnungswidrig parkt?“

Ich: „Den Weg gehe ich jeden Tag. Ich kenne mich also aus und weiß, daß ein LKW auf dem Bürge steig nichts zu suchen hat!“ Er: „Wie wollen Sie das denn wissen? Wenn dort eine Baustelle ist, muß der LKW auch parken können!“ Ich: „Das mag ja stimmen, aber dann muß er richtig abgesichert sein, damit man sich nicht verletzen kann!“ „Na gut“, lenkt er ein und fragt: „Warum wollen Sie denn den LKW-Fahrer anzeigen? Sie wollen doch nur ihrem Zorn Luft machen?“

Ist dem Polizisten klar, dass er durch sein diskriminierendes Verhalten meinen Zorn erst Recht provoziert? So gut es geht, unterdrücke ich meine Gefühle und schildere ihm nochmals den Sachverhalt, dass der Chef der Mohrenapotheke für mich als Zeuge auftritt und gebe ihm das Autokennzeichen und den Namen der Malerfirma durch.

Erst jetzt erklärt er sich bereit, den Tatort aufzusuchen. Ist er wirklich nur zu faul, seinen Pflichten nachzukommen, oder glaubt er, eine Blinde kann solche Situationen sowieso nicht richtig einschätzen?

Gemeinsamer Widerstand führt zum Ziel!
Ich informiere den Apotheker von meinem Versuch, eine Anzeige zu erstatten. Er sagt mir, dass er auch die Polizei über den Vorfall unterrichtet habe. Daraufhin sei ein Polizist gekommen und habe sich lange mit dem LKW-Fahrer unterhalten. Was dabei rausgekommen sei, wisse er leider nicht.

Schließlich ruft mich nach einer halben Stunde der Polizist an: Der LKW sei jetzt weg, doch habe er von seinem Kollegen erfahren, dass dieser mit dem Fahrer gesprochen habe. Er schlägt mir vor, eine Anzeige wegen ordnungswidrigem Parken aufzugeben. Ich erkläre mich damit einverstanden. Wäre es auch ohne die Hilfe des Apothekers zu einer Anzeige gekommen?

Ist dies wirklich nur ein Einzelfall?
Leider nein: Unsere Bürgersteige sind immer mehr zugeparkt und mit unabgesicherten Baustellen ausgestattet, worauf Fussgänger gerne verzichten würden. Müssen wir diese Rücksichtslosigkeit wirklich tolerieren? Dazu sei zum Schluss noch folgender Hinweis erlaubt:

Sechs Tage nach obigem Erlebnis befinde ich mich auf meinem gewohnten Weg zur Sparkasse: Ich höre schon von weitem den Baulärm. Daher bleibe ich stehen und spreche eine Passantin an, dass sie mich an dem Lärm vorbeiführt.

Sie tut dies gern, doch plötzlich gleitet mein Blindenstock in einen offenen Kanal, der nicht abgesichert ist. Ich frage daraufhin nur: „Was würden Sie machen, wenn ich Ihnen da reinfalle?“

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