Dorothea Brozek

Zur Situation behinderter Menschen in Österreich

Behindertengleichstellungsgesetz, Pflegegeld, Persönliche Assistenz (1. Teil des Freak-Radio Interviews von Gerhard Wagner mit Mag. Dorothea Brozek)

Gerhard Wagner: Vor wenigen Tagen ist das Behinderten-Gleichstellungsgesetz wirksam geworden. Wie stellt sich denn jetzt eigentlich die Situation behinderter Menschen in Österreich dar?

Mag. Dorothea Brozek: Ich würde die Situation behinderter Menschen in Österreich so umschreiben, dass jetzt auch Österreich nicht umhin gekommen ist, in Richtung Gleichstellung behinderter Menschen endlich Gesetze zu beschließen. Damit „hoppeln“ wir endlich dem Europäischen und dem Internationalen Trend ein wenig nach.

Wir wissen ohnehin, dass das Gesetz nicht das „Gelbe vom Ei“ ist, und dass die Behindertenbewegung das Behinderten-Gleichstellungsgesetz sehr kritisch betrachtet. Ich denke einerseits, dass aller Anfang schwer ist, natürlich stehe ich auch hinter der Kritik, voll und ganz – aber endlich ist es gemacht!

Gerhard Wagner: Im Sinne von: Ein Anfang ist gemacht?

Mag. Dorothea Brozek: Ja. Ich denke wirklich, ein Anfang ist gemacht und ich denke auch, dass man die Dinge immer auf zwei Gleisen betrachten muss: Einerseits zu schauen, dass wir als InteressensvertreterInnen das Meiste für unsere Gruppe herausholen, und natürlich ist es unsere Aufgabe, dann berechtiger Weise zu kritisieren, nicht zufrieden zu sein und auf die Barrikaden zu steigen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch wie Leichtathleten, wie Sprinter, nach dem großen Sprung kurz verharren und durchaus sagen, o.k., es ist einmal ein Anfang, und wie machen wir weiter?

Gerhard Wagner: Höre ich da eine gewisse Pragmatik heraus, nämlich in der Situation das herauszuholen, was herauszuholen ist, um morgen vielleicht wieder herauszuholen, was morgen herauszuholen ist?

Mag. Dorothea Brozek: Ja, also ganz in diesem Sinne verstehe ich auch mein Engagement in dem speziellen Themenbereich „Persönliche Assistenz für behinderte Menschen“. Ich kann sagen, dass wir mit unserem Team der Wiener Assistenzgenossenschaft im Sinne dieses Pragmatismus gearbeitet haben. Und wir sind ein großes Stück weitergekommen in diesen nicht einmal noch vier Jahren… Genau diese Haltung war notwendig für die kleineren und größeren Erfolge. Und die hatten wir bis jetzt durchaus!

Gerhard Wagner: Bleiben wir vielleicht noch ein wenig bei den politischen Rahmenbedingungen: Wir haben jetzt von der Gleichstellung geredet. Es sind ja in den letzten Jahren, gerade, was Persönliche Assistenz betrifft, einige Weichenstellungen geschehen. Die letzte liegt zwölf Jahre zurück, nämlich die Einführung des Pflegegelds, das aber mittlerweile nicht mehr der damaligen Kaufkraft entspricht, weil es kaum Evaluierungen, also Anpassungen an die Inflation gegeben hat. Man hört auch immer wieder, dass man nicht mehr jene Pflegegeldstufe bekommt, die man vielleicht früher bekommen hätte und die dem Bedarf entsprechen würde.

Auf der anderen Seite ist es seit zirka zwei Jahren möglich, Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz zu bekommen. Daher meine Frage: Ist die Situation, von den Strukturen her, einfacher oder schwieriger geworden?

Mag. Dorothea Brozek: Das ist eine sehr schwierige Frage! Die Einführung des Bundespflegegeldes war sicher ein ganz elementarer Schritt! Es gab drei wichtige Pfeiler: Die Unabhängigkeit vom Einkommen, die Unabhängigkeit von der Ursache der Behinderung und die Tatsache einer Direktleistung an die betroffenen behinderten Menschen, also ganz wichtige Dinge für ein selbstbestimmtes Leben!

Zwei Dinge, die wirklich die Selbstbestimmung behinderter Menschen hemmen: Einerseits weil nach dem ersten Schritt in die richtige Richtung, als die das Pflegegeld bezeichnet wurde, keine weiteren folgten – oder aber die Schritte, die erfolgten, waren eine Verschlechterung nach der anderen!

Und wenn wir vielleicht ein paar wenige Verbesserungen finden, dann wiegen diese die Verschlechterungen nicht auf, auf keinen Fall! Das Jahrhundertgesetz verkümmert also langsam zu einem altmodischen Konstrukt nach dem medizinischen Modell der Behinderung. Und das ist der zweite Punkt, den ich sehr kritisiere, nämlich grundsätzlich, was die Selbstbestimmung behinderter Menschen und den Sichtwechsel von Behinderung angeht:

Denn hier wurde nicht weiter entwickelt, denn hier wird weiterhin Behinderung ausschließlich vom medizinischen Blickwinkel betrachtet!

Denn hier werden behinderte Menschen auf Nachtkastl und Bett reduziert – in ihren „Hilfe- und Betreuungsverrichtungen“, wie es in der Verordnung heißt. Sie werden nicht als Menschen oder Bürger und Bürgerinnen dieses Landes betrachtet, die sich frei bewegen können, sollen, müssen und auch zum Beispiel Berufe ergreifen und Familie haben.

Das berücksichtigt das Pflegegeld nicht. Und das ist ein großes Problem!

Gerhard Wagner: Medizinisches Modell aufs Pflegegeld bezogen: Heißt das, dass man da ärztliche Diagnosen braucht, mit ärztlichen Kalkulationen, welchen Bedarf es am Tag für welche Dinge gibt. Ist das damit gemeint? Und was wäre die Alternative?

Mag. Dorothea Brozek: Dass eben Mediziner Gutachten stellen. Mediziner arbeiten mit Diagnosen. Das heißt, dass Diagnosen der erste Punkt ist, der für ein Gutachten zählt – wobei man schon sagen muss, MedizinerInnen lernen vom Alltag behinderter Menschen nichts in ihren Ausbildungen, sondern die lernen etwas ganz anderes! Wir müssen uns schon alle mittelfristig die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, mit diesem medizinischen Blickwinkel zu arbeiten: Denn was nützt eine Diagnose, um dann herauszufiltern, was der Mensch alles nicht kann und man den praktischen Alltag dann überhaupt nicht betrachtet, also da brauchen wir andere Instrumente!

Was ganz wichtig ist, nämlich dass behinderte Menschen einbezogen werden im Hinblick einer Selbsteinschätzung ihres Hilfebedarfes.

Gerhard Wagner: Andere Instrumente: Welche wären das konkret?

Mag. Dorothea Brozek: Wir kennen in der Persönlichen Assistenz am Arbeitsplatz, die es als Richtlinie vom „Ministerium für Soziales und Generationen“ seit 2004 gibt, auf der Grundlage von zwei Jahren Pilotversuch seitens der WAG, das erste Bundesregelwerk, welches Persönliche Assistenz beschreibt und definiert – und zwar im Sinne der Persönlichen Assistenz und im Sinne behinderter Menschen: Und da gibt es auch so ein Setting, das zur Feststellung des Assistenzbedarfes angeführt ist: Das ist die Assistenzkonferenz. Das ist ein regelmäßiges Zusammentreffen der zuständigen Behörden, in diesem Fall das Bundessozialamt, aber auch, weil Persönliche Assistenz ganzheitlich betrachtet werden muss (denn, wenn ich in der Früh nicht aus dem Bett komme, hilft mir die Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz auch nicht), die Länder, deren Aufgabe die Finanzierung in den anderen Lebensbereichen ist. In der Assistenzkonferenz werden also auch Vertreter des jeweiligen Bundeslandes eingeladen und die betroffene behinderte Person, die Assistenz möchte, hat auch das Recht, sich selbst zu vertreten und wird von der Assistenzservicestelle, in Wien ist das die WAG, begleitet.

Das ist ein runder Tisch, an dem der Assistenznehmer, die Assistenznehmerin (= die behinderte Person) ihre Situation beschreibt, definiert, warum sie wofür Persönliche Assistenz braucht und ihren Assistenzbedarf formuliert gegenüber den Behörden. Was den Lebensbereich „Arbeit“ betrifft, wird an Ort und Stelle von der zuständigen Behörde, nämlich dem Bundessozialamt, dann der genehmigte Assistenzbedarf zur Kenntnis genommen. Dieser Assistenzbedarf, der dort beantragt wird, wird vorher mit den AssistenznehmerInnen und der Assistenzservicestelle, also der WAG ausführlich vorbereitet, besprochen und dann eben an diesem runden Tisch vorgelegt.

Der Vorteil eines solchen ganz anderen Settings im Gegensatz zu den Akten- und Anträge-Schreiben, ist, dass hier Menschen aus Fleisch und Blut zusammenkommen und direkt miteinander agieren können. Wenn es Verständnisprobleme gibt, dann kann die Behörde gleich nachfragen. Sie macht sich dann mit allen Sinnen ein Bild zu der Person und zu dem Anliegen und dem Antrag. Das wird gleich erledigt.

Die Vertreter der Länder sind bei uns in Wien dabei, Vertreter des Fonds Soziales Wien, die waren übrigens von Anfang an, damals noch als MA 12, als wir noch in der Pilotphase waren, dabei. Da, wo sie können, können sie Informationen geben. Aber in Wien fehlen noch Rahmenbedingungen zur Persönlichen Assistenz.

Teil 2: Über Medizinisches Modell versus Selbstbestimmung – lesen Sie hier

Teil 3: Über die Situation zur Persönlichen Assistenz in Wien – lesen Sie hier

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