Im Rahmen der Aktion T4 wurden von "den Nazis" fast 11000 Menschen mit Behinderungen aus Süddeutschland ermordet. Gedanken von Gerhard Bartz
In diesen Tagen gedenkt Deutschland in einer jahrzehntelang eingeübten Routine den Verbrechen „der Nazis“. Auch die Medien sind eingebunden und berichteten beispielsweise über die Tötungsanstalt Grafeneck im Kreis Reutlingen.
„Die Nazis“
Am Beispiel von Grafeneck wird eines deutlich: Um die Tötungsmaschinerie in Gang zu setzen, war eine ausgefeilte Infrastruktur erforderlich. Neben Staatsdienern in Ministerien, Behörden und vor Ort waren sicherlich auch viele „Normalbürgerinnen und -bürger“ der Umgebung, die dort ihrem Broterwerb nachgingen, die abends Feierabend machten und sich anschließend ihrem Familienleben widmeten.
Und das nicht nur in Grafeneck, sondern in der Umgebung sämtlicher Vernichtungsanstalten. Daher muss davon ausgegangen werden, dass die Tätigkeiten dieser Menschen in der Gesellschaft breite Verankerungen fanden. Nun wäre es interessant, einmal wissenschaftlich zu ermitteln, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sich dieses Denken über die Jahre bis in die heutige Zeit gerettet hat. Natürlich gibt es heute keine Tötungsanstalten mehr, aber viele der damaligen Gedanken stecken heute noch in den Köpfen der Menschen.
Welcher Mensch mit Behinderung musste noch nicht in einem Bescheid lesen, dass seine Ansprüche der Gesellschaft nicht zuzumuten seien? Solche Sätze sind selbst in Schreiben von Regierungsbediensteten wiederzufinden. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen geht in ihrem Inhalt an keiner Stelle über die allgemeinen Menschenrechte hinaus. Doch das Gezeter über die Konvention, die Verweigerung der Umsetzung durch Regierungen und Kostenträger dokumentieren eindrucksvoll, wie der Geist der Aussonderung noch im Denken unserer Gesellschaft verankert ist.
Die Verteidigung des eigenen Unterstützungsbedarfes gegen die Runterhandlungs- und Verweigerungsroutinen der Kostenträger haben allzu oft psychische Folgen, denn man muss sein eigenes Leben auf dem Prüfstand sparwütiger Behördenbediensteter sehen. Die teilweise Enteignung des Einkommens und Vermögens bei behinderten Menschen mit Assistenzbedarf und deren Angehörigen mit der nonchalanten Begründung „Sozialhilfeleistung“ bewirkt ähnliches.
Das alles ist Gott sei Dank mit den Vorgängen im „Dritten Reich“ nicht gleichzusetzen. Dennoch tun sich Menschen mit Behinderungen heute noch sehr schwer, selbstbewusst ihre Ansprüche auf ein Selbstbestimmtes Leben inmitten der Gemeinschaft durchzusetzen. Denn wer will schon gerne hören oder lesen, dass dieser Anspruch der Gesellschaft nicht zuzumuten ist?
Die Behindertenrechtskonvention, zu deren Einhaltung sich Deutschland gesetzlich und völkerrechtlich verpflichtet hat, eröffnet eine Chance: Im Artikel 8 verpflichtet sich Deutschland, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einen Bewusstseinswandel herbeizuführen. Hier kann den Hintergrundgeräuschen der Vergangenheit, dem immerwährenden Aussonderungsdenken, den Vorzügen der „Wohlfahrt“ vor dem Durchsetzen von Rechten Einhalt geboten werden. Die laufenden Koalitionsverhandlungen könnten eine echte Chance für eine positive sozialpolitische Zäsur bedeuten.
Die Parteien bleiben aufgefordert, Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen nicht unter Finanzierungsvorbehalt zu stellen und dafür zu sorgen, dass sich die Schere zwischen Reden und Handeln endlich schließt.