Im Wien des Jahres 1804 wurde der Grundstein gesetzt.
Anlässlich der 200jährigen Geschichte des Zuganges sehbehinderter und blinder Menschen zur Bildung – primär schulischen – im deutschsprachigen Raum, die im Jahr 2004 natürlich insbesondere in Wien, der Quasi Geburtsstätte der Blindenbildung im deutschsprachigen Raum, mit Festakten gefeiert wird, ist es wohl nur recht und billig, einen kleinen Rückblick auf diese belebte und fast möchte ich sagen revolutionäre Entwicklung in diesen 200 Jahren zu wagen.
Wenngleich die im Paris des Jahres 1784 gemachten ersten erfolgreichen Versuche, blinde Kinder zu beschulen, in den Wirren der französischen Revolution versanken, entwickelte sich doch bald darauf zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien die Blindenbildung im deutschsprachigen Raum.
Im Jahr 1804 wurde durch den im schwäbischen Alerheim geborenen Juristen, Johann Wilhelm Klein, der erste, wie er selbst es formulierte, „Versuch, blinde Kinder zur bürgerlichen Brauchbarkeit zu bilden“, gemacht; er begann zunächst mit dem Privatunterricht des damals neunjährigen, durch die Plattern erblindeten Buben Jacob Braun in seiner Wohnung auf der Wiener Landstraße Nummer 34; seine bahnbrechenden Erfolge der Bildung dieses blinden Kindes, hielt J. W. Klein in einem lesenswerten Aufsatz im Jahr 1805 fest, den er in den nächsten Jahren immer wieder um neue Anhänge ergänzte.
Klein berichtet darin über seine Beobachtungen und empirischen Erkenntnisse betreffend die Schulung des Tastsinnes, die Erarbeitung einer körperlichen und räumlichen Vorstellung, das Erlernen der Schrift durch Tastbuchstaben und die Entwicklung einer sog. Lesetafel, das eigenhändige Schreiben mit einem sog. Linienblatt als Zeilenhalter und er berichtet über die guten Anlagen blinder Zöglinge zum Kopfrechnen, das Rechnen mit der sog. Rechenschnur mit hölzernen Kugeln, mit der russischen Rechenmaschine und mit der Rechentafel.
Klein setzt bereits im 19. Jahrhundert tastbare Landkarten zum Orientierungstraining, Modelle von Gebäuden und Tieren und Kalender mit tastbarer Schrift sowie eine Tastuhr ein.
Aber auch der musikalische Unterricht kam bei J. W. Klein nicht zu kurz; so lernte Jacob Gitarre, Harfe, Klavier und Gesang. auch die Notenschrift macht er Jacob Braun durch in ein Holzbrett eingeschlagene Messingnägelchen zugänglich.
Diese erste Prüfung der Bildbarkeit eines blinden Kindes im Jahr 1805, die vor einer breiten Öffentlichkeit abgehalten wurde, führte dazu, dass im Jahr 1808 diese Bildungseinrichtung J. W. Kleins mit „allerhöchster Entschließung“ zur „Privatanstalt auf Kosten des Staates“ gemacht wurde. Im Jahr 1816 schließlich wurde, ebenfalls auf „allerhöchste Entschließung“, das „kaiserlich-königliche Blindeninstitut“ in Wien begründet, dessen Direktor Johann Wilhelm Klein wurde, der seinen ersten blinden Schüler, Jacob Braun, sodann als Lehrgehilfen am Blindeninstitut beschäftigte.
Schon damals merkte Klein an: „Denn dass ihn eben seine Blindheit zu dem Unterrichte seiner Unglücksgenossen eine besondere Tauglichkeit gebe, ist leicht einzusehen, da er aus eigener Erfahrung am besten weiß, auf welche Art und durch welche Mittel der Mangel des Gesichtes in einzelnen Fällen am besten und leichtesten ersetzt werden könne, welches für den Sehenden ein eigenes Studium und lange Übung erfordert.“
Im Jahr 1819 erschien dann Kleins blindenpädagogisches Werk „Lehrbuch zum Unterrichte Blinder“.
1825 gründete J. W. Klein den „Verein zur Versorgung und Beschäftigung erwachsener Blinder, vornehmlich der austretenden Zöglinge des Blinden-Instituts“ (heute: Österreichische Blindenwohlfahrt).
Im Jahr 1873 fand sodann der erste Kongreß der Blindenpädagogen – Blindenlehrerkongress – in Wien statt, der bis zum Jahr 1910 regelmäßig veranstaltet wurde und dann durch die Ereignisse in Sarajewo und den ersten Weltkrieg unterbrochen wurde.
Als im Jahr 1876 auch die in Frankreich entwickelte Braillesche Punktschrift im Unterricht eingeführt wurde, war ein umfassendes System der Blindenbildung im deutschsprachigen Raum grundgelegt.
Neben dem k. k. Blindeninstitut wurde aber im 19. Jahrhundert in Wien noch eine weitere Bildungsstätte für blinde SchülerInnen geschaffen; im Jahr 1869 wurde ein Fonds zur Errichtung des Israelitischen Blindeninstitutes ins Leben gerufen. Das Institut wurde dann – auf Initiative von Ludwig August Frankl – vom Bankier Baron Jonas Freiherr von Königswarter gestiftet und 1871-1872 vom Architekten Wilhelm Stiassny auf der Hohen Warte Nummer 32 erbaut und mit dem Schreckensregime der Nationalsozialisten im Jahr 1938 zwangsweise aufgelöst.
Das Bild der Gesellschaft von blinden Menschen im 19. Jahrhundert spiegelt sich in dem Aufsatz von Klein aus 1805 eindrucksvoll wider, wenn es dort etwa heißt:
„Unter Allen, welche körperliche Fehler haben, erscheinen die Blinden als die Unglücklichsten und Hilfsbedürftigsten. Des edelsten Sinnes beraubt, welcher unentbehrlich ist, die gewöhnlichen Geschäfte zu treiben und selben nachzugehen, fühlen solche Blinde, denen es nicht an Lebensmitteln gebricht, wenigstens das Unangenehme der Geschäftlosigkeit und der Langeweile, die unvermöglichen Blinden aber betrachtet man gewöhnlich als geborne Bettler, wovon jeder nocheine ihm zum Führer dienende Person der Arbeit entziehet.“
Schon diese Beschreibung des gesellschaftlichen Bildes von blinden Menschen macht wohl eindrucksvoll klar, dass es im 19. Jahrhundert bei weitem keine Selbstverständlichkeit war, diese Personengruppe als nützliche und bildungsfähige Menschen zu sehen und zu fördern.
Das heutige Bundes-Blindenerziehungsinstitut in der Wiener Wittelsbachstraße wurde schließlich an eben diesem Ort im Jahr 1896 begründet, als das k. k. Blindeninstitut von seinem damaligen Standort in der Josefstadt zufolge des Stadterweiterungsprogramms – Eingemeindung der Vororte – schrittweise weichen musste. Dem Geschick des in dieser Zeit amtierenden Direktors des k. k. Blindeninstituts, Alexander Mell, war es zu danken, dass das Grundstück am Rande des Praters, das dem Großgrundbesitzer, Großindustriellen und Mitglied des Herrenhauses, Anton Dreher, gehörte, im Rahmen einer begünstigten Stiftung unentgeltlich für die Errichtung des neuen Blindeninstitutsgebäudes zur Verfügung gestellt wurde.
Auch Direktor Mell erweiterte die Blindenbildung im deutschsprachigen Raum nachhaltig; wurde doch unter seiner Direktion anfang des 20. Jahrhunderts auch der Grundstein für die Frühförderung blinder Kinder gelegt. Von den hervorragenden Bildungserfolgen der blinden SchülerInnen am k. k. Blindeninstitut überzeugte sich im Jahr 1902 sogar Kaiser Franz Joseph, der sich einer Anekdote zufolge vor allem auch darüber bewundernd zeigte, dass sich die SchülerInnen aus den unterschiedlichen Regionen der Monarchie im Gegensatz zu den Volksgruppen der Kronländer, gut vertrugen.
Wenngleich auch die berufliche Ausbildung bereits J. W. Klein ein besonderes Anliegen war, bewegte sich diese bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts lediglich in den handwerklichen – Tischlerei, Korbflechterei, Bürstenbinderei, Seilerei etc. – und musischen Bereichen, wobei einzelne sehr talentierte SchülerInnen sogar ein Studium am Musikkonservatorium absolvierten. Die ersten moderneren Ansätze einer Berufsausbildung für blinde Menschen wurden im Isrealitischen Blindeninstitut bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgt, als insbesondere auf Initiative von Prof. Siegfried Altmann versucht wurde, die Schüler in den Berufsfeldern Stenotypie, Juristerei, Philosophie und Fremdsprachenkorrespondenz zu integrieren. Ab 1939/1940 etablierte sich vor allem wegen des massiven Arbeitskräftebedarfes der Nationalsozialisten auch eine Berufsbildung in den Büroberufen, wie etwa die Telefonisten- und Stenotypistenausbildung; hier sei erwähnt, dass die erste Telefonistenprüfung im Sommer 1940 in Wien stattfand.
Dies war zwar nur ein sehr bescheidener Auszug aus der eindrucksvollen Geschichte der Blindenbildung im deutschsprachigen Raum, doch er lässt wohl den großen Verdienst dieser Pioniere des Blindenbildungswesens, allen voran J. W. Kleins und Jacob Brauns, deutlich werden. Ohne diese Initiativen wäre die Integrationsbewegung aber auch die aktuelle Forderung nach inklusiver Bildung für Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Bemühungen um ein österreichisches Behindertengleichstellungsgesetz wohl kaum denkbar.
Nun, diese Erfolgsgeschichte des Zuganges blinder und sehbehinderter Menschen zur Bildung, die in Wien ihren Anfang nahm, ist doch wahrlich ein Grund zum Feiern; aus diesem Anlass findet am 6. Mai 2004 ab 17:00 Uhr im Bundes-Blindenerziehungsinstitut – 1020 Wien, Wittelsbachstraße 5 – ein Festakt unter dem Titel „200 Jahre Blindenbildung im deutschsprachigen Raum“ statt.