Urteil: Schweizer Militärdienstersatzsteuer diskriminiert

Erstmals verweist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und das darin verankerte Prinzip der "angemessenen Vorkehrungen".

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Sachverhalt

Mit 18 Jahren erkrankte der Schweizer Sven Glor an Diabetes. Aus diesem Grund wurde er für den Militärdienst für untauglich befunden. Und weil die Ärzte seine Behinderung als „nicht erheblich“ einstuften, wurde ihm die Zahlung einer Militärersatzdienststeuer auferlegt. Obwohl Herr Glor immer wieder deutlich machte, dass er sehr gerne Militärdienst oder ersatzweise Zivilschutz leisten würde, teilten ihm die Behörden mit, dass dies nicht möglich sei.

Herr Glor erhob bei der zuständigen Behörde gegen den Bescheid Einspruch, da er sich durch die Zahlungsverpflichtung diskriminiert fühlte. Der Einspruch, als auch die anschließende Beschwerde wurden von der zuständigen Behörde beziehungsweise dem Bundesgericht mit Hinweis auf die aktuelle Rechtslage abgewiesen.

Gesetzeslage in der Schweiz

Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft bestimmt in Art. 59, dass jeder Schweizer zum Militärdienst verpflichtet ist und dass derjenige eine Abgabe schuldet, der weder Militär- noch Ersatzdienst leisten kann.

Im Bundesgesetz über die Wehrpflichtersatzabgabe (WPEG) ist normiert, dass Männer mit einer erheblichen körperlichen oder geistigen Behinderung von der Ersatzpflicht befreit sind (Art. 2 und Art. 4 WPEG). Eine erhebliche Behinderung liegt nach der nationalen Rechtsprechung erst ab einer 40%-igen Beeinträchtigung der physischen oder psychischen Integrität vor.

In der Schweiz müssen sohin Männer, die wegen einer sogenannten leichten Behinderung (bis 40%) nicht Militärdienst leisten können, einen Wehrpflichtersatz leisten.

Urteil des EGMR

Wegen der nicht zu vernachlässigen Höhe der Steuer, der Dauer der Zahlungsverpflichtung, der Bereitschaft von Herrn Glor, Militär- oder Zivildienst zu leisten und dem Fehlen von geeigneten Alternativen für Menschen mit Behinderungen kommt EGMR in seinem Urteil vom 30. April 2009 zu dem Schluss, dass kein gerechter Ausgleich zwischen dem Schutz der Interessen der Allgemeinheit und der Rechte des Herrn Glor geschaffen wurde (deutsche Zusammenfassung des Urteils).

Der EGMR hob hervor, dass dienstuntaugliche Männer, die wie Herr Glor, einem normalen Beruf nachgehen können, einerseits gegenüber Männern mit einer als erheblich eingestuften Behinderung, die von der Zahlung befreit sind, aber auch gegenüber Dienstverweigerern, die Zivildienst leisten dürfen, diskriminiert werden.

Da die umstrittene Steuer nicht objektiv gerechtfertigt ist, liegt eine diskriminierende Behandlung und folglich eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK) vor. Die Schweiz wurde zur Rückzahlung des von Herrn Glor geleisteten Militärpflichtersatzes inklusive Zinsen verpflichtet.

Kommentar

Das Urteil kann für die Schweiz weit reichende Folgen haben. Laut Medienberichten zahlen immer mehr Personen Ersatzabgabe. 2004 waren 133000 Männer ersatzpflichtig, 2007 waren es bereits 167000. Bund und Kantone erhalten so pro Jahr gut 100 Millionen Franken.

Die Schweiz ist jedoch nicht gewillt auf das Geld zu verzichten und beharrt auf der Zahlung der Militärersatzsteuer. Das schweizerische Bundesamt für Justiz teilte mit, dass das Urteil an die Grosse Kammer des EGMR weitergezogen wurde. Die Schweiz hat seit dem Jahr 2007 bereits dreimal erfolglos die oberste Straßburger Instanz angerufen. Unterliegt die Schweiz auch im Fall Glor, so muss das Urteil umgesetzt werden.

Aber auch für diese Variante hat die Schweiz bereits Ideen, wie man die Wehrdienstersatzsteuer weiter aufrechterhalten kann. Nach Angaben des Bundesamtes für Justiz werde dann geprüft, wie stark einzelfallbezogen das Urteil im Fall Glor ist. Auch eine Ablehnung der Grossen Kammer bedeute jedenfalls nicht das Ende der Ersatzabgabe und es sei weiterhin offen, ob eine Gesetzesänderung notwendig wird.

Gänzlich aus der Affäre ziehen kann sich die Schweiz aber nicht. Sollte das Urteil rechtskräftig werden – und ein Umstoßen der einstimmigen Entscheidung durch die Grosse Kammer ist unwahrscheinlich -, so muss die Schweiz auf jeden Fall ihre Praxis ändern.

Dienstuntauglichen müsste nach Ansicht des EGMR unter Verweis auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und das darin verankerte Prinzip der angemessenen Vorkehrungen, eine Funktion in der Armee entsprechend ihren Fähigkeiten angeboten oder sie müssten zum Zivildienst zugelassen werden. Andernfalls müsste das Gesetz wohl zumindest Personen mit geringem Einkommen unabhängig vom Grad ihrer Behinderung von der Ersatzpflicht befreien.

Ob es aber vielleicht sogar zu einer gänzlichen Streichung der Ersatzabgabe durch eine entsprechende Gesetzesänderung kommt, wie es Behindertenverbände der Schweiz seit langem fordern bleibt abzuwarten.

Wenn auch die Folgen des Urteils noch nicht konkret abzuschätzen sind, der erstmalige Verweis eines europäisches Höchstgerichts auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen kann schon jetzt als ein großer Erfolg bezeichnet werden.

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