„Wert des Lebens. Der Umgang mit den Unbrauchbaren“

Die neue Dauerausstellung in Schloss Hartheim provoziert und informiert

Ein Bereich der Ausstellung (Raum 8, Aufbrüche) thematisiert die Behindertenbewegung der 1970er und 1980er Jahre mit Fokus auf Österreich. Ausschnitte aus Diskussionssendungen und Interviews mit Aktivist*innen können auf einem Bildschirm gesehen und gehört werden.
Sigrid Rauchdobler/Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim

2003 wurde in Schloss Hartheim die erste Dauerausstellung eröffnet. Nach 16 Jahren wurde sie 2019 geschlossen und Ende Mai 2021 inhaltlich und gestalterisch neu überarbeitet eröffnet.

Die neue Ausstellung verbindet provokant, vielschichtig und informativ historische und aktuelle Fragen aus den Themengebieten Behinderung, Sozialpolitik, Ethik, Medizin und Biotechnologie.

Selbst die 100jährige Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich hat ausreichend Platz gefunden. Ein Ausstellungsbesuch, der sich bei aller Grausamkeit und Tragik, die sich in den Schlossmauern zwischen 1940 und 1944 abspielte und tausenden Menschen ihr „unwertes“ Leben kostete, dennoch lohnt.

Im Zuge der Neugestaltung wurde die Homepage barrierefrei gestaltet, eine Ausstellungs-App mit leichter Sprache, Gebärdenvideos, Audiofiles und Fremdsprachen eingeführt und eine Rundgangs-Broschüre in leichter Sprache erstellt.

Roter Faden

Die neue Ausstellung umfasst 14 Räume. Der provokant formulierte Zusatz „Umgang mit den Unbrauchbaren“ ist der thematische rote Faden. Im Zentrum steht die Frage, wie die Gesellschaft mit als „unbrauchbar“ definierten Menschen umging bzw. heute umgeht.

  • Wie und von wem wird jemand als „unbrauchbar“ definiert?
  • Welche Vorstellungen von Normierung und Optimierung herrschen in einer Gesellschaft vor?
  • Wie wurde und wird versucht, diese Normen gesellschaftlich/staatlich/medizinisch umzusetzen?
  • Und wie könnten demgegenüber Zugänge aussehen, die an Menschenrechten, Demokratie und Inklusion orientiert sind?

Diese Fragen werden in den Räumen der Ausstellung aufgeworfen. Die Menschen, um die es dabei geht, werden nicht als passive Objekte von Politik, Wissenschaft und Institutionen vorgeführt, sondern ihre Kämpfe für Selbstbestimmung und die eigenen Interessen werden sichtbar gemacht.

Von Geschichte lernen

Nachgeschärft und neu fokussiert widmet sich wieder ein Teil der Ausstellung sowohl den Spannungsverhältnissen Religion und Wissenschaft, Aufklärung und Industrialisierung als auch dem Entstehen von sozialen Sicherungssystemen und Sondereinrichtungen und dem weltweiten Aufkommen eugenischer Ideen.

Geschickt werden mit Hilfe von Querverweisen und Beispielen ihre Verbundenheit und innere Logiken deutlich gemacht. Einen wichtigen, aber nicht zentralen Platz nimmt die NS-Rassenhygiene ein, welche die NSDAP ab 1933 umsetzen konnte.

Den Beginn machte ein Gesetz zur zwangsweisen Sterilisation von so genannten „Trägern minderwertigen Erbguts“. Den Höhepunkt bildete ab 1939 die systematische Ermordung psychisch kranker bzw. behinderter Menschen.

Ihre ökonomische Komponente verdeutlicht die so genannte „Hartheimer Statistik“, wo die ökonomische „Erfolgsbilanz“ des NS-Euthanasieapparats dargelegt wird. Den Nachgang bildete das unsystematische Morden in psychiatrischen Krankenhäusern – ausgeführt von medizinischem Personal.

Kontinuitäten und (Auf)Brüche – Kampf für selbstbestimmtes Leben

Eugenische Ideen verschwanden nicht mit den Nazis. In Deutschland und Österreich konnten sie nach 1945 nicht mehr laut ausgesprochen werden, in anderen Ländern schon. Im Bereich der Betreuung von Menschen mit Behinderungen knüpfte Österreich wieder an den Prämissen von vor 1938 („warm, satt, sauber“) an.

Neu in der Ausstellung und einmalig für Österreich ist die Thematisierung der Selbstorganisation bzw. Selbstbestimmt-Leben-Bewegung von Menschen mit Behinderungen und die Reformbewegung in der Psychiatrie – sie begannen in den 1970er Jahren.

In Österreich und Deutschland gingen von diesen Reformbewegungen auch wichtige Impulse für die Aufarbeitung der NS-Euthanasie aus.

Ab den 1990er Jahren konnten im Bereich Behinderung und psychischer Krankheiten wichtige Reformen auf den Weg gebracht werden, die sich ab der Jahrtausendwende beschleunigten, wie beispielsweise neue Angebote sozialer Dienstleistungen und Assistenzformen, Veränderung der Prämissen – von der Integration zur Inklusion oder die Behindertenrechtskonvention 2008.

Gegenwart und Zukunft „Der Mensch als Schöpfer seiner Selbst“ – planen, gestalten, optimieren

Raum 9 widmet sich unter dem Titel Visionen zum einen den Entwicklungen in Biomedizin und Gentechnik ab den 1990er Jahren, zum anderen der Behindertenrechtskonvention und dem Kampf um Inklusion. Die Skulptur der DNA-Spirale wurde von Künstler*innen mit Behinderungen des benachbarten Ateliers Neuhauserstadel geschaffen.
Sigrid Rauchdobler/Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim

Der letzte Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit den Versprechungen durch neue technische Möglichkeiten und der menschlichen Phantasie in Bezug auf die „Verhinderung der Unbrauchbaren“: pränatale Diagnostik und Prä-Implantationsdiagnostik versprechen, die „Mängelmenschen“ zu verhindern.

Krankheiten sollen durch den Einsatz neuer Methoden verhindert bzw. geheilt werden (CRISPR/CAS). Durch den Einsatz verschiedenster Techniken soll die „Drohung“ des Alters bekämpft werden – bis hin zur Überwindung des Todes durch die Verheißungen des Transhumanismus.

Zentral ist in diesem Bereich das Paradigma der Freiwilligkeit und Selbstverantwortung: Nicht mehr der Staat erzwingt das entsprechende Verhalten, die Individuen selbst wetteifern um Gesundheit und Selbstoptimierung:

Das zentrale Paradigma des Neoliberalismus ist – zumindest in den westlichen Gesellschaften – breit in der Bevölkerung verankert. Der modernen Medizin steht eine Vielzahl hochwirksamer Therapien zur Verfügung, die viele Krankheiten und Gebrechen als heilbar bzw. reparabel erscheinen lassen. Behinderung und Invalidität scheinen durch Einsatz von High-Tech (z. B. Prothetik, Implantate, …) überwindbar.

Beim Einsatz von High-Tech- und Biomedizin stellt sich allerdings immer auch die Frage der Zugänglichkeit (wie erfolgt die Finanzierung?) und des dahinterliegenden Versprechens nach der Optimierung des Menschen (nur welcher?). Damit werden immer neu aufkommende ableistische (behindertenfeindliche) Ideen hinterfragt.

Raum für Reflexion über den Wert des Lebens

Am Ende der Ausstellung wird noch ausreichend Platz für Reflexion und Diskussion gegeben. Es werden neben den persönlichen Handlungsspielräumen auch die Chancen und Möglichkeiten erläutert, die dargestellten Entwicklungen aktiv mitzugestalten und sich in den politischen Diskurs und Prozess einzubringen.

Die Ausstellung vermittelt damit nicht den Weg in eine Dystopie, auf dem es unaufhaltsame und zwangsläufige Entwicklungsschritte in eine „schöne neue Welt“ (A. Huxley) gibt.

Vielmehr werden die Ambivalenzen, Chancen und Risiken der aktuellen Entwicklungen zur Diskussion gestellt und zum Nachdenken angeregt. Es wird außerdem sichtbar, dass es sich um Themen handelt, die alle Menschen betreffen und die von allen diskutiert und gestaltet werden können.

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4 Kommentare

  • Danke Angela für deinen Artikel. Du hast mich neugierig gemacht. Ich schaue mir die neu gestaltete Ausstellung demnächst einmal an.

  • Auch die „Langzeitarbeitslosen“ gehören heutzutage schon zu den „!Unbrauchbaren“ und werden beim AMS – Stichwort AMS-Algorithmus – (aus)sortiert und pathologisiert. Insbesondere seit der Verschärfung des Zugangs zur Invaliditätspension. Was sich da abspielt ist voll unmenschlich und wird dennoch kaum thematisiert. Erwerbsarbeitsloseninitaitiven sind in Österreich noch viel mehr marginalsiert als die Behindertselbstorganisationen. Sie sind tabu weil der Lohnarbeitsfetischismus ein zentrales Element der Herrschaft von Staat und Kapital ist … daher gibt es auch kein Museum der Arbeitslosigkeit, kein Archiv einer Arbeitslosenbewegung oder auch wenigstens ein Arbeitslosenzentrum … einfach nichts …

    • Ich verstehe, dass es nicht so einfach ist, mit dem Kräfte bündeln und gemeinsam auftreten. Das war auch in der Behinderten-Selbstverstretung so. Und es ist auch heute immer noch mühsam gemeinsame Sache zu machen. Aber ohne dem geht es leider nicht, wenn sich etwas entwickeln soll. Es muss die Opferrolle verlassen und der Blick nach vorne gerichtet werden.
      Die Behindertenbewegung hat unterdessen 100 Jahre auf dem Buckel und lässt nicht locker – zumindest bis jetzt…

  • Herzlichen Dank für die Information.

    Ich werde diese Ausstellung sicher besuchen.
    Meine Urgroßmutter musste in Hartheim ihr Leben lassen 1941.

    Danke für die Mühe.
    Beste Grüße, Irene Köhler