Harald Reutershahn, Mitinitiator und Motor der kobinet-nachrichten, verstorben

Ein trauriger Anlass für die Redaktion, auf eine bewegte und bewegende Zeit mit dem kritischen Frankfurter Geist zurückzublicken.

Harald Reutershahn
Harald Reutershahn

Der im außergewöhnlichen Weinjahrgang 1954 gebürtige Rheingauer Harald Reutershahn war selbstverständlich ein Rieslingliebhaber. Der rebellische, in Frankfurt lebende Rollinutzer mit Sinn für klassische Musik, Literatur, Sport und Politik, gehörte seit Anfang der siebziger Jahre als Aktivist zur Behindertenbewegung.

Für den Club Behinderter und ihrer Freunde Frankfurt (CeBeeF) war er u.a. lange verantwortlich für dessen Online-Magazin FORUM. Und die kobinet-nachrichten hat Harald Reutershahn nicht nur mit initiiert, sondern über viele Jahre als Motor mit seiner kritisch engagierten Art geprägt.

Nun erreichte die kobinet-Redaktion die Nachricht, dass Harald Reutershahn verstorben ist. Ein trauriger Anlass für die Redaktion, auf eine bewegte und bewegende Zeit mit dem kritischen Frankfurter Geist zurückzublicken.

„1968 wurde ich Rollstuhlfahrer und lernte, dass wir behinderte Menschen in Deutschland als ‚Unnütze Fresser und Ballastexistenzen‘ vergast wurden. So machte ich mich auf den Weg und wurde Aktivist der Krüppelbewegung. 1970 war für mich mit der ‚Mittleren Reife‘ Endstation mit der Schulbildung, denn Abitur für Behinderte, das war unmöglicher als die Mondlandung mit Apollo 11. So habe ich mir den Arschtritt das Kapitalismus geholt und musste, weil nichts anderes blieb, 1973 eine kaufmännische Berufsausbildung in den „Bigger Werkstätten“ (vormals „Krüppelanstalt“) im Wahlkreis von Friedrich Merz, Buchhalter lernen. Dort trat ich in die Gewerkschaft ein und lernte mit Peter Stinn, der wegen Staublunge in einem Kohlebergwerk Frührentner geworden war, den ersten Kommunisten persönlich kennen und die anderen jungen und alten Genoss*innen in der DKP Parteigruppe Neheim-Hüsten. So trat ich 1975 in die Partei von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ein, die KPD, die 1956 in der BRD von alten Nazis verboten wurde und sich dann 1968 auf dem 1. Parteitag In Frankfurt als DKP neu gründete. Dort lernte ich die für mich ersten Widerstandskämpfer gegen das Naziregime in der VVN – Bund der Antifaschisten – kennen. Nach der Lehre zurück in meinem Heimatstädtchen Rüdesheim am Rhein begegnete mir dann unser Kreisvorsitzender der DKP Wiesbaden Fritz Hamm, Sohn einer Bergarbeiterfamilie aus Essen, und dann gründete ich die DKP Gruppe Rheingau-Taunus-Kreis, war inzwischen auch Mitglied geworden in der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), kandidierte für meine Partei bei Kreistags- und Landtagswahlen. Und weil ich nach meiner abgeschlossenen Lehre 8 Jahre und 5 Tage arbeitslos war, musste ich schließlich aus dem Rheingau nach Wiesbaden umziehen. Nachdem ich gerade einen Behindertenverein gegründet hatte, gründete ich einen weiteren Behindertenverein in Wiesbaden. Von dort aus landete ich beim CeBeeF Frankfurt und fand meinen ersten Arbeitsplatz. Dort wiederum begegnete mir Theresia Degener. Die war 1981 im UNO Jahr der Behinderten bei der Gründung der deutschen Krüppelbewegung dabei („jedem Krüppel seinen Knüppel“). Und so ging das Leben seinen Weg. Bei einer Rehamesse in Frankfurt begegnete mir Hubertus Thomasius, dann lernte ich Franz Schmahl von MOVADO kennen und unseren späteren Präses Ottmar Miles Paul vom ZSL Kassel, Elke und Gerhard Bartz von FORSEA … und so entstanden die kobinet-nachrichten.“

So beschrieb Harald Reutershahn 2022 einen Teil seines Weges, der ihn zu den kobinet-nachrichten führte.

Harald Reutershahn war in den 1990er Jahren sozusagen das Sprungbrett der kobinet-nachrichten ins Internet und ebneten vielen anderen diesen Weg. Anfangs schickten die einzelnen Akteur*innen, die gesonderte Mailinglisten betrieben, noch die Texte an Harald Reutershahn, der diese auf der Internetseite des CeBeeF Frankfurt veröffentlichte.

Einmal auf den Geschmack der Möglichkeiten des Internets gekommen, gründeten sich dann die kobinet-nachrichten 2002 auch formal als Verein mit eigenem Internetauftritt – und das natürlich im Albatros, der Kneipe gegenüber von Harald Reutershahn in Frankfurt. Harald Reutershahn trug durch seine vielfältigen Berichte und seine später über Jahre hinweg veröffentlichte kobinet-Kolumne entscheidend dazu bei, dass die kobinet-nachrichten vielfältig aufgestellt waren und die Kritik an der Politik und den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zu kurz kam.

In den letzten Jahren hatte sich der kritische Geist aus Frankfurt jedoch zunehmend aus der Berichterstattung zurückgezogen, was auch mit seinen schwindenden Kräften, aber auch mit der Ernüchterung in Sachen Behindertenpolitik zu tun hatte. Ihm war in seinem Engagement stets wichtig, dass Assistent*innen fair bezahlt werden und dass nicht nur an Symptomen herumgedoktort, sondern grundsätzlich etwas in Sachen sozialer Gerechtigkeit verändert wird. Beim 20jährigen Jubiläum der kobinet-nachrichten am 19. August 2022 war Harald Reutershahn online zugeschaltet und gab der Redaktion die Mahnung mit auf den Weg, sich vom System nicht einwickeln zu lassen.

Harald Reutershahn war aber nicht nur kritischer Geist und Motor für die Berichterstattung der kobinet-nachrichten, sondern auch Ermutiger und Unterstützer. Jens Bertrams, der die kobinet-nachrichten ebenfalls durch die Ermutigung von Harald Reutershahn mitgegründet hat und über viele Jahre hinweg als Provider verschiedener Internetangebote fungiert hat sowie für den Ohrfunk regelmäßig berichtet, erinnert sich heute noch gerne und dankbar daran, wie Harald Reutershahn ihm Mut gemacht hat, bei den kobinet-nachrichten behindertenpolitisch mitzumachen und das Internet zu nutzen.

„Ohne Harald wäre ich mit Sicherheit nie so weit ins Netz gegangen, dass ich lange Zeit Internetprovider war und bei Ohrfunk so engagiert mitmische“, betont Jens Bertrams. Zum Gedenken an ihn legte dieser in der letzten Ohrfunk-Sendung das Lied der 60er auf. Im Gegensatz zum Bayern-Fan der kobinet-Redakteur, Ottmar Miles-Paul, war Harald Reutershahn langjähriger Anhänger der Münchner Löwen, was für regen Gesprächsstoff bei so manchen Redaktionssitzungen sorgte, auch wenn Harald Reutershahn die zunehmende Kapitalisierung des Fußballs zuwider war.

Der kobinet-Redaktion fehlt Harald Reutershahn bereits jetzt und wir trauern mit vielen anderen, dass uns dieser nette und kritische Geist leider viel zu früh im Alter von 69 Jahren verlassen hat. Daher halten wir einen Tag inne mit unserer Berichterstattung im Gedenken an Harald Reutershahn, der für die kobinet-nachrichten, die Behindertenbewegung und viele Menschen so viel getan und bewegt hat. DANKE HARALD!

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2 Kommentare

  • Wusste leider nichts,von diesem hier wunderbar beschriebenen Herrn!Sehr bewegendes Leben geführt,eine wahrhaft starke Persönlichkeit gewesen!Sehr“treffend“ gestalteter Nachruf!

  • Sehr traurig das Harald Reutershahn ein so guter Behinderten Aktivist so früh die Erde belassen muste mit freundlichen Grüßen Thomas henrichsen