„Die Oma lebt …“ – Behindertenpolitik in den USA

Mike trägt einen kleinen schwarzen Rucksack mit einer Antenne. In seinen Ohren stecken "Walkman"-Kopfhörer, auf seiner Nase sitzt eine Sonnenbrille. Neben ihm geht sein Golden Retriever.

Marco Smoliner
Smoliner

Es ist Mike’s erster Spaziergang in dieser Gegend. Mike ist blind. In seinem Rucksack steckt ein sprechendes Global-Positioning-System-Navigationsgerät.

Die Stadt mit ihren Straßen, Verkehrsmitteln, Hotels, Sehenswürdigkeiten etc. ist darauf gespeichert. Die Satelliten sagen Mike auf ein paar Meter genau, wo er gerade steht, welche Busstation in der Nähe ist und in welche Richtung sein Hotel liegt. „Mit diesem Rucksack betrügt mich auch in einer fremden Stadt kein Taxler mehr,“ scherzt Mike.

Darcy ist 17 Jahre alt, ein fröhlicher und intelligenter Teenager. Sie wird heuer die High-School abschließen und mit dem College beginnen. Sie ist ein Genie auf dem Computer und beherrscht das Morse-Alphabet perfekt. Das muß sie auch.

Darcy sitzt im Rollstuhl und hat keine Gliedmaßen. Mit dem Stumpf ihres rechten Oberarmes bedient sie einen speziellen Kippschalter mit Morsezeichen. Eine eigene Software, von Darcies Großvater entwickelt, setzt die Morse-Impulse auf dem Computer um. Darcy ist kaum langsamer als ihre Mitschüler. Sie freut sich auf ihr Informatik-Studium.

Nur zwei Beispiele für jene Technologien, die internationale Unternehmen im März beim Kongreß „Technology and Persons with Disabilities“ der California State University, Northridge, in Los Angeles präsentierten. Tenor der Ausstellung: Selbstbestimmt leben für Menschen mit besonderen Bedürfnissen.

Das ist auch das erklärte Ziel des „Westside Center for Independent Living“. Mit seinem „Housing Advocacy Training-Program (H.A.T.)“ berät das Zentrum behinderte Menschen in Wohnungsfragen. Niemand hat das Recht, behinderte Menschen als MieterInnen abzulehnen, spezielle Mieten, Kautionen oder Ablösen von ihnen zu verlangen.

Im Gegenteil:
Die privaten VermieterInnen sind gesetzlich verpflichtet, das Objekt barrierefrei zugänglich zu machen, leicht erreichbare Behindertenparkplätze zu schaffen und zu erhalten und „Service-Dogs“ – also Partnerhunde – zuzulassen. Sogar Aufschriften müssen extra groß sein, damit Sehbehinderte sie lesen können.

Alle diese Pflichten sind seit 1990 gesetzlich festgelegt, im „Americans with Disabilities Act – ADA“, jenem amerikanischen Bundesgesetz, das behinderten Menschen in den gesamten USA absolute Gleichstellung gesetzlich garantiert. Was für uns Europäer so beispielhaft sein sollte, hat freilich traurige Gründe.

Die starke Lobby, die sich in den USA für Behinderte einsetzt, ist nicht aus purer Toleranz und Menschlichkeit entstanden. Sie hat ihre Wurzeln in jenen zig-tausenden amerikanischen Soldaten, die als Schwerstbehinderte aus Vietnam- und Koreakrieg zurückkehrten. Es war eben nicht möglich, tausende „gute Patrioten“ zu ignorieren, die dem Land ihre Gesundheit geopfert hatten.

Aber gerade dieses Bewußtsein hat dazu geführt, daß heute in öffentlichen und privaten Unternehmen, in Großraumbüros und Chefetagen selbstverständlich Betroffene arbeiten. Körper-, sinnes- und geistig behinderte Menschen sind ein selbstverständlicher Bestandteil des täglichen Lebens – mit selbstverständlicher Gleichberechtigung. Und trotz dieser frühen Bewußtseinsbildung hat es bis 1990 gedauert, den ADA im Kongress zu beschließen.

Ein anderes Beispiel:
Die – zwar spärlich aber doch – vorhandenen öffentlichen Verkehrsmittel in L.A.-County haben mehr als zwei Drittel ihrer Busflotte mit integrierten Hubliften an der Vordertüre ausgestattet. Wenn ein Bus keinen Hublift hat, ist es einer, der noch vor dem ADA in Dienst gestellt wurde. Alle neuen Busse werden serienmäßig mit Hublift geliefert.

Eine Selbstverständlichkeit, wie sie die Wiener Verkehrsbetriebe nicht einmal bei Niederflurbussen schaffen. Laufende Kundenbefragungen stellen sicher, daß sich kein Busfahrer an der Haltestelle auf einen kaputten Hublift ausredet. 98 % der Fahrwünsche behinderter Kunden können erfüllt werden, und zwar ohne Begleitperson. Wien ist anders.

Wo sind die behinderten Mitglieder?
Wie weit Wien von L.A. entfernt ist, zeigt nichts so deutlich, wie folgende Zitate: Als sich die Gemeinderätliche Behindertenkommission mit der Schwesternorganisation in L.A., der County Commission for Disabilities traf, war die erste Frage der amerikanischen (blinden) Vorsitzenden: „Und wo sind ihre behinderten Mitglieder?“

Und bei den Verkehrsbetrieben in Los Angeles County erkundigte sich einer unserer GR-Kollegen danach, wie hoch die „Mehrkosten“ für die behindertengerechte Adaptierung der Verkehrsmittel seien.

Ein Bürgerrecht
Der Koordinator für Behindertenangelegenheiten – selbst im Rollstuhl – antwortete in amerikanischer Deutlichkeit: „Behindertengerechte Verkehrsmittel sind ein gesetzliches Bürgerrecht. Wir führen keine Berechnungen, wieviel wir uns durch Rechtsbruch ersparen würden.“

Nachsatz unter vier Augen: „Sie rechnen sich ja auch nicht aus, was Sie erben würden, wenn Sie ihre Oma umbringen. Die Oma lebt …!“

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