Amsterdamer Vertrag: Mehr Rechte für behinderte Menschen?

Vor einem Jahr wurden im Vertrag von Amsterdam eine Nichtdiskriminierungsklausel sowie einige weitere Neuerungen beschlossen, die Auswirkungen für behinderte Menschen haben werden.

Die Forderung nach einer Nicht-Diskriminierungsklausel in den Europäischen Verträgen wurde erstmalig im Jahr 1993 erhoben: Die 518 anwesenden behinderten Vertreter verabschiedeten anläßlich des 1. Europäischen Behindertentages eine Entschließung, die die Aufnahme einer „allgemeinen Anti-Diskriminierungsbestimmung“ forderte.

In dem zwei Jahre später veröffentlichten Bericht „Unsichtbare Bürger“, geschrieben von Menschenrechts- und Behindertenanwälten, wurde der Status behinderter Menschen in den EU-Verträgen aus rechtlicher Sicht untersucht. Das Dokument kam zum Ergebnis, daß Behinderte in den Verträgen mit keinem Wort erwähnt wurden, also unsichtbare Bürger waren.

Nachdem auch das Europäische Parlament sich zugunsten unserer Forderung ausgesprochen hatte, galt es nun, rechtzeitig vor dem Beginn der Regierungskonferenz, in deren Rahmen die Änderungen der Europäischen Verträge beschlossen werden sollten, möglichst breite Kampagnen auf nationaler Ebene zu starten. Auf nationaler Ebene deswegen, weil ja jede einzelne Regierung die schriftliche Zustimmung zu allen Vertragsänderungen geben muß – also auch zu unseren Forderungen.

Die Kampagnen verliefen dann äußerst unterschiedlich, mehrheitlich aber sehr zäh: Zum einen lag das an den Regierungen und den Parlamenten, hier gab es viel Desinteresse oder auch Befürchtungen, die Gleichstellung könnte zu nicht bewältigbaren Kosten führen (letzteres haben wir stets aus Deutschland gehört); zum anderen lag es an den Betroffenen selbst.

In unserem Land verfaßte die Selbstbestimmt-Leben-Initiativen Österreichs (SLIÖ) nach anfänglichem Desinteresse der Regierung eine Resolution, in der eine Nicht-Diskriminierungsklausel gefordert wurde. Diese Resolution wurde auch von den herkömmlichen Behindertenorganisationen übernommen.

Den endgültigen Durchbruch brachte aber erst eine von BIZEPS initiierte Kampagne anläßlich des „Europäischen Tages der behinderten Menschen“ am 3. Dezember 1996. In dieser Kampagne „Behindertenrechte JETZT“ forderten wir die Parlamentarier auf, die Bundesregierung zu verpflichten, die Nicht-Diskriminierungsklausel in die EU-Verträge aufzunehmen. Die Parlamentarier erkannten die Notwendigkeit eines solchen Schrittes und so war die Regierung nun gezwungen, den Willen der Volksvertreter zu vollstrecken – wir hatten gesiegt!!

Im Juni 1997 wurden im Vertrag von Amsterdam nun endlich eine Nicht-Diskriminierungsklausel, eine Bestimmung, wonach die Bedürfnisse von behinderten Menschen zu berücksichtigen sind, sowie einige weitere Änderungen, beschlossen, die Auswirkungen für behinderte Menschen haben könnten oder auch haben werden:

  1. Die sogenannte Nicht-Diskriminierungsklausel (ehemals Artikel 6a) ist nun Artikel 13 und lautet folgendermaßen: „Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrages kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“

    Positiv an dieser Formulierung ist, daß sie der EU zum erstenmal Kompetenzen im Behindertenbereich überträgt und die Tatsache der Diskriminierung behinderter Menschen anerkennt. Nachteilig an dem Artikel ist, daß er nur mittelbare Wirkung haben wird, weil er der Europäischen Gemeinschaft lediglich gestattet, Maßnahmen gegen Diskriminierungen zu ergreifen. Will die Gemeinschaft jedoch Maßnahmen ergreifen, muß jede Maßnahme einstimmig vom Europ. Rat genehmigt werden. Dem Einzelnen werden keine Rechte gegeben, auf die er sich vor den nationalen Gerichten berufen kann.

    Allerdings sind Fachleute der Ansicht, daß der Artikel 13 längerfristig positive Auswirkungen haben kann, wie z.B. die Anerkennung des Rechts auf Nichtdiskriminierung durch den Europäischen Gerichtshof, und er könnte auch die rechtliche Grundlage für neue gesetzgebende Maßnahmen und Aktionen darstellen.

  2. Die Binnenmarktgesetzgebung in Artikel 95 (ehem. Artikel 100a): Hier geht es um die Standardisierung von Produkten (z.B. Bussen), wobei bisher die Bedürfnisse behinderter Menschen nicht berücksichtigt worden sind. Nunmehr wurde diesem Artikel folgende Erklärung beigefügt: „Die Konferenz kommt überein, daß die Organe der Gemeinschaft bei der Ausarbeitung von Maßnahmen nach Artikel 95 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft den Bedürfnissen von Personen mit einer Behinderung Rechnung tragen.“

    Negativ daran ist, daß diese Erklärung nicht rechtsverbindlich ist, weshalb weder bei den nationalen Gerichten noch beim Europäischen Gerichtshof, dem EuGH, dagegen Klage erhoben werden kann. Dennoch stellt diese Erklärung nach Meinung der Fachleute eine starke politische Verpflichtung dar, weil sie der Gemeinschaft die moralische Verpflichtung auferlegt, die Bedürfnisse von behinderten Menschen zu berücksichtigen.

  3. Das Kapitel über soziale Bestimmungen – die Artikel 136-145: Hier werden die Zielsetzungen für die Sozialpolitik der EU dargelegt, zu denen u.a. „die Bekämpfung von Ausgrenzungen“ gehört. Der Europäische Rat kann Mindestvoraussetzungen für die Umsetzung von Maßnahmen beschließen. Die Kommission muß jetzt sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber konsultieren, bevor sie neue gesetzgebende Maßnahmen vorschlägt. Hier sehen Experten eine gute Möglichkeit, auf die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen.
  4. Gesundheit – Artikel 152 (ehem. 129): Nach wie vor ist die Gesundheit Angelegenheit der Mitgliedsstaaten. Neu ist die Bestimmung, daß bei allen Aktivitäten der Europ. Gemeinschaft ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt werden muß. Allerdings hat auch dieser Artikel keine unmittelbare Wirkung, was bedeutet, daß er dem Einzelnen keine einklagbaren Rechte überträgt. Fachleute meinen aber, daß Programme und Aktivitäten, die zur Ausgrenzung statt zur Integration beitragen, den Standard dieses Artikels (= ein hohes Maß an Gesundheitsschutz) wahrscheinlich nicht erfüllen werden.
  5. Zugang zu Informationen – Artikel 225 (ehem. 191a): Dieser neue Artikel besagt: „Jeder Unionsbürger sowie jede natürliche Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedsstaat hat das Recht auf Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission.“

    Nach Expertenmeinungen erstreckt sich diese Bestimmung nur auf Dokumente in konventioneller Form. Die Bedürfnisse von behinderten Menschen (wie z. B. in Blindenschrift, Großdruck oder auf Diskette für sehbehinderte Menschen oder auf Band oder in einer leichter lesbaren Form für Menschen mit Lernschwierigkeiten) könnten aber dann berücksichtigt werden, wenn die internen Verfahrensregeln entwickelt und beschlossen werden. Dies wird nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam geschehen.

  6. Subsidiarität – Artikel 5 (ehem. 3b): Neu ist, daß zu diesem Artikel ein Protokoll verabschiedet wurde, in dem festgehalten wurde „… die Kommission (sollte) vor der Unterbreitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften … umfassende Anhörungen durchführen.“ Das Protokoll führt nicht an, wen die Kommission konsultieren bzw. mit wem sie sich beraten soll. Jedoch meinen die Experten, daß im Hinblick auf Maßnahmen, die behinderte Menschen direkt betreffen, ihre Vertreter konsultiert werden sollten. Weiters könnte man die Meinung vertreten, daß diese Konsultation auch bei Maßnahmen stattfinden sollte, die behinderte Menschen nur indirekt betreffen. Das Prinzip der Subsidiarität gilt in Bereichen, in denen sowohl die Gemeinschaft als auch die Mitgliedsstaaten zuständig sind.
  7. Menschenrechte – Artikel 6 und 7 (ehem. Art. 6 VEU): Nunmehr spielen die Menschenrechte eine größere Rolle als bisher und daher heißt es auch: „Die Union beruht auf den Grundsätzen … der Achtung der Menschenrechte.“

    Darüber hinaus gibt der neue Artikel 7 dem Rat die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, falls ein Mitgliedsstaat die Grundrechte ernsthaft und andauernd verletzt. Allerdings steht dem ein sehr kompliziertes Verfahren gegenüber. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, daß es zu Sanktionen kommt.

    Fachleute vertreten die Ansicht, daß eine positive Auslegung des Artikels 6 günstige Auswirkungen auf einen Diskriminierungsschutz behinderter Menschen haben könnte.

  8. Allgemeine Prinzipien des Gemeinschaftsrechts: Im Laufe der Zeit hat der EuGH allgemeine Grundsätze ausgearbeitet, auf die er sich bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts bezieht. Diese Prinzipien sind im Laufe der Zeit zu einem Bestandteil des Europäischen Rechts geworden. Darauf ruhen nun die Hoffnungen der Fachleute: Sie erwarten, daß der EuGH allgemeine Grundsätze ausarbeitet, die das Prinzip der Nichtdiskriminierung einschließt.

Zusammenfassende Einschätzung:
Leider ist aus der von uns geforderten MUSS-Bestimmung in der Nicht-Diskriminierungsklausel nur eine KANN-Bestimmung geworden, die vor den nationalen Gerichten nicht einklagbar ist. Ähnlich verhält es sich auch mit der Erklärung über die Bedürfnisse von behinderten Menschen. Bei diesen beiden Punkten waren wir nur teilweise erfolgreich.

Auf der anderen Seite aber eröffnen sich durch neue Bestimmungen auch einige neue Chancen, die wir ausloten und nützen sollten. Und weiters führt an der Nicht-Diskriminierungsklausel von behinderten Menschen kein Weg mehr vorbei. Das bedeutet konkret, daß wir in unserer Arbeit fortfahren müssen mit dem Ziel, im Rahmen der nächsten Regierungskonferenz die von uns gewünschten und notwendigen Formulierungen zu erkämpfen bzw. zu erreichen.

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