Kind behindert: Schadenersatz nach unterlassener Abtreibung

Die Presse: Der Oberste Gerichtshof läßt erstmals Ersatz für die Eltern zu, weil die Mutter im Spital nicht über erkennbare schwere Mißbildungen am Embryo informiert wurde.

In „Die Presse“ erschienen:

„Der Schock im Kreißsaal war tief. „Da ist uns etwas Schreckliches passiert“, sagte die Hebamme, die als erste ein Wort herausbrachte. Die Mutter bemerkte zuerst nur, daß die versammelten Geburtshelfer blaß geworden waren. Erst als sie sich aufrichtete und das Kind zu sehen bekam, wußte sie warum: Dem Buben fehlen beide Arme, und er hat Klumpfüsse.

Elfeinhalb Jahre nach der Geburt, bei der für die Mutter „die Welt zusammenbrach“, hat der Oberste Gerichtshof ein spektakuläres Urteil gefällt: Erstmals läßt er Ersatz für Schäden wegen einer unterbliebenen Abtreibung zu. Die zugrundeliegenden juristisch-ethischen Fragen, die bis zur überspitzten Formulierung vom „Kind als Schaden“ führen, sind äußerst umstritten.

35jährige Mutter
Die damals 35jährige hatte sich einem Gynäkologen anvertraut, der sie schon bei einer früheren Entbindung unterstützt hatte. Der Facharzt und Oberarzt an einer Universitätsfrauenklinik verfügte in seiner Privatordination über kein Ultraschallgerät und pflegte seine Patientinnen an ein Wiener Großspital zur ambulanten Untersuchung zu schicken.

Dort wurden die schweren Mißbildungen aber bei keiner Untersuchung bemerkt – obwohl das laut späteren Sachverständigen-Aussagen ohne weiteres möglich gewesen wäre. Im Gegenteil: Eine Ärztin versicherte der Schwangeren, es gehe ihrem Kind „ausgezeichnet“.

Umso schwerer war der Schock bei der Geburt, der freilich nur einen Teil der von den Eltern geltend gemachten Schäden ausmachte: Sie verlangten auch namens des Kindes Ersatz (z. B. für seine Schmerzen) und – angesichts der Behinderung sicher der größte finanzielle Brocken – eine (teilweise) Abgeltung des Aufwands, den sie für den Buben erbringen müssen. Begründung: Hätte die Mutter von den Defekten gewußt, hätte sie abtreiben lassen. Der Schwangerschaftsabbruch wäre wegen medizinischer Indikation eindeutig rechtmäßig gewesen.

Noch nie hat der OGH „Unterhaltsschäden“ bei einem unerwünschten Kind für ersatzfähig gehalten: So lehnte es das Höchstgericht ab, einem Vater, der von der Frau wissentlich über die Empfängnisbereitschaft getäuscht wurde, einen Ersatzanspruch zu geben. Der Fall des Buben, dessen schwere Behinderung während der Schwangerschaft nicht erkannt wurde, ist aber „mit dem Problemkreis der bloß fehlgeschlagenen Familienplanung nicht vergleichbar“.

Dennoch scheut sich etwa der zweite Senat des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das Dasein eines Kindes als Schadensquelle zu werten. Das verbiete sich wegen der Verpflichtung des Staates, „jeden Menschen in seinem Dasein um seiner selbst willen zu achten“, so der zweite Senat in Karlsruhe.

Dem folgt der OGH nicht: Unterbleibt wegen Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht ein Schwangerschaftsabbruch, so erstreckt sich die Haftung auf die Freistellung des Patienten von wirtschaftlichen Belastungen, die der Behandlungsvertrag vermeiden sollte. Erweist es sich als zutreffend, daß sich die Eltern zur Abtreibung entschlossen hätten (was die zweite Instanz jetzt noch prüfen muß), steht ihnen der Ersatz des Mehraufwands für das Kind zu, der durch die Behinderung entsteht (der volle Unterhalt steht nicht zur Debatte, weil die Eltern ihn nicht verlangt haben).

Hätte die Frau das Kind hingegen auch bei Kenntnis der Defekte zur Welt bringen wollen (der schwierige Beweis obliegt der Beklagtenseite), fällt der Ersatz kleiner aus: Dann bekommen die Eltern nur jene Schäden ersetzt, die durch die verspätete Kenntnis verursacht wurden – etwa weil sie nicht zeitgerecht Spezialisten suchen konnten, die das Kind ab der Geburt hätten optimal betreuen können.

Gar keinen Ersatz kann hingegen das Kind selbst bekommen. Hier sind die „Grenzen erreicht, innerhalb derer eine rechtliche Anspruchsregelung möglich ist. Der Mensch hat grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist, und er hat keinen Anspruch auf Verhütung oder Vernichtung durch andere“, sagt der Gerichtshof. Sehr wohl steht der Mutter Ersatz für ihren Schock bei der Geburt zu.

Bleibt die Frage, wer bezahlen muß: keinesfalls der Gynäkologe, der die Ultraschall-Untersuchungen ja nicht gemacht hat, und auch nicht der ebenfalls beklagte Leiter des damit befaßten Spitals. Denn der braucht sich als Erfüllungsgehilfe der Spitalsträger die Fehler seiner Mitarbeiter nicht zurechnen zu lassen. Es haften vielmehr die Rechtsträger Bund und Gemeinde.“

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