Behindert werden oder behindert sein?

Die Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit schafft eine gemeinsame Sprache.

Judith Hollenweger
Hollenweger, Judith

Im Jahre 1993 wurden die „Standardregeln über die Chancengleichheit für behinderte Menschen“ von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet; doch hat sich die Situation von Menschen mit Behinderungen seitdem verbessert?

Eine Antwort darauf versucht der von der UNO eingesetzte Berichterstatter Bengt Linqvist zu finden; allerdings werden unter dieser Makroperspektive die alltäglichen Diskriminierungen kaum faßbar. Zeitgleich wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) damit beauftragt, eine Klassifikation oder besser gesagt ein gemeinsames Vokabular zu schaffen, das in den unterschiedlichsten Disziplinen und Arbeitsfeldern verwendet werden kann und auf der Einsicht basiert, daß „Behinderung“ eben nur im Wechselspiel mit der Umwelt verstanden werden kann.

Die damals gut 10 Jahre alte „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“ (ICIDH, WHO 1980) konnte diesem Anspruch nicht gerecht werden und wurde deshalb vollständig überarbeitet. An den Revisionsarbeiten nahmen auch verschiedene internationale Behindertenorganisationen teil, um die Berücksichtigung ihrer Interessen abzusichern.

Ende Mai 2001 nun soll die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) von der Generalversammlung der WHO (World Health Assembly) verabschiedet werden.

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ist einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung verpflichtet und geht davon aus, das „Funktionsfähigkeit“ (Functioning) und „Behinderung“ (Disability) alle Menschen betrifft; wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung.

Das Modell basiert auf dem Wissen, daß die drei Dimensionen des menschlichen Seins (als Körper, als Person und als soziales Wesen) nur in Interaktion mit den Kontextfaktoren verstanden werden können. Zu den Kontextfaktoren gehören einerseits die Umweltfaktoren, andererseits die personenbezogenen Faktoren (wie etwa Geschlecht, Alter, sozialer Status), die jedoch nicht klassifiziert werden. Die Klassifikation besteht somit aus vier Bereichen ((1) Körperfunktionen und Körperstrukturen, (2) Aktivitäten der Person, (3) soziale Partizipation und (4) Umwelt), die ihrerseits in Kapitel mit Abschnitten und Unterabschnitten eingeteilt sind.

Beispiele
Die Dynamik zwischen diesen Bereichen läßt sich am besten anhand einiger Beispiele aufzeigen. Stellen wir uns eine HIV-positive Frau vor, die ihre Arbeitsstelle verliert. Da die Krankheit AIDS noch nicht ausgebrochen ist, sind ihre Körperfunktionen (z. B. Aufmerksamkeit, Bewegungsfunktionen oder Verdauung) in keiner Weise eingeschränkt; dies gilt auch für die Aktivitäten (z. B. Lesen, mit Streß umgehen, Kommunizieren), die sie bisher in ihrem Beruf ausgeübt hat.

Die Umwelt (z. B. Unterstützung und Beziehungen, Einstellungen und Haltungen) wirkt jedoch dahin, daß sie nicht mehr am Lebensbereich Arbeit teilhaben kann; eine Tatsache, die sich auch auf ihre Partizipation in den Bereichen „Interpersonelle Beziehungen“ und „Wirtschaftliches Leben“ auswirken könnte.

In diesem Beispiel wird der negative Einfluß der Umwelt deutlich; die Diskriminierung wird in der verhinderten Teilnahme in verschiedenen Lebensbereichen faßbar. Die Umwelt kann jedoch auch eine positive Auswirkung haben.

Wenn etwa einem jungen Mann mit einer Rückenmarkverletzung eine persönliche Assistenz (Kapitel „Unterstützung und Beziehungen“ und Kapitel „Dienstleistungen, Systeme, Politik“) und ein adaptiertes Auto (Kapitel „Produkte und Technologie) zur Verfügung steht, so wird er an den meisten Lebensbereichen teilnehmen können (Partizipation an Mobilität, Partizipation an Arbeit und Erwerbstätigkeit, Partizipation am wirtschaftlichen Leben).

Ohne diese unterstützenden Umweltfaktoren wäre der Betroffene möglicherweise durch die eintretende Isolation nicht nur in seiner Partizipation eingeschränkt, sondern würde langfristig auch Fähigkeiten einbüssen (Bereich Aktivitäten), in dem er seine kommunikative Kompetenz verlieren, vielleicht depressiv werden würde und nicht mehr für sich sorgen könnte.

Behinderung als Interaktion
Die Klassifikation ermöglicht es somit, „Behinderung“ als Interaktion zwischen Umwelt und Individuum zu erfassen und aufzuzeigen, daß in den meisten Fällen nicht Körperfunktionen verantwortlich für Behinderungen sind, sondern die Umwelt. Dadurch ist sie potentiell auch ein Instrument für die Selbstbestimmt Leben Bewegung.

Die Klassifikation liegt in ihrer Endfassung erst in den sechs offiziellen WHO-Sprachen vor und kann auf der folgenden Seite im Internet herruntergeladen werden. Die deutsche Übersetzung der jedoch bereits veralteten Beta-2 Fassung finden Sie unter http://ifrr.vdr.de.

Eine nächste Aufgabe nach der Verabschiedung der Klassifikation wird es sein, eine für alle befriedigende letzte Übersetzung ins Deutsche vorzunehmen. Wäre Ihre Mitarbeit daran nicht eine gute Gelegenheit, die Klassifikation und ihr Potential für betroffene Menschen besser kennen zu lernen?

Kontakt: Judith Hollenweger, Universität Zürich, Hirschengraben 48, 8001 Zürich.
holle@isp.unizh.ch
Disability-Research

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