Leserbrief zum Artikel: „Was haben die Schweden, was wir nicht haben?“

Als Betroffener, der seit 1973 in Schweden lebt, und als Gründer der schwedischen Selbstbestimmt-Leben Bewegung bin ich mit der schwedischen Szene wohlvertraut. Daher möchte ich einige Punkte verdeutlichen.

Flagge Schweden
European Commission Audiovisual Library

„Es gibt behindertengerechte Wohnungen“ ist eine Untertreibung. So formuliert, hat der Leser keine Chance sich der Tragweite der schwedischen Baunormen bewußt zu werden, die seit 1978 vorschreiben, daß alle neugebauten Wohnungen in Mehrfamilienhäusern für alle Bürger gebaut werden müssen – also auch für beispielsweise Rollstuhlfahrer.

Die Vorschriften umfassen die Auflagen: Aufzugszwang ab mehr als 2 Stockwerken; Aufzüge, Flure, Küche und Bäder von bestimmten auf Rollstuhlfahrer abgestimmte Mindestdimensionen. Die Reform bedeutet, daß sich der Bestand von menschengerechten Wohnungen inzwischen auf schätzungsweise 8-10% des gesamten Wohnungsbestandes erhöht hat. Als Rollstuhlfahrer bin ich also nicht mehr auf Ghettos wie in anderen Ländern angewiesen. Die Frührente ist ein zweischneidiges Schwert: jedes Jahr werden ca 3.000 Jugendliche direkt nach Schulabschluß in die Frührente abgeschickt – nur weil sie behindert sind – und verschwinden damit aus Arbeitslosenstatistik und der Gesellschaft. All das trotz der üblichen Lippenbekenntnisse zu voller Teilnahme und Gleichheit im Sinne der jeweilig gängigen UNO Dokumente, die immer von Schweden voll unterstützt werden.

Das 1994 beschlossene Gesetz zur Persönlichen Assistenz hat seine Vorgeschichte in der von der schwedischen Selbstbestimmt-Leben Bewegung gestarteten Initiative der Persönlichen Assistenz-Genossenschaften. Seit 1987 betreibt STIL, Stockholms Genossenschaft für Independent Living, persönlich Assistenzdienste. Im Unterschied zu „Pflegediensten“ ist hier der Benutzer Subjekt, nicht Objekt. Wir sind in diesem Modell Arbeitgeber und übernehmen die Aufgaben des Anstellens, Anlernens, geben die Anweisungen, machen das Schema und entlassen die Assistenten, wenn sie sich als ungeeignet erweisen. Die Gelder dazu kamen ursprünglich von der jeweiligen Gemeinde.

Das 1994 in Kraft getretene Gesetz, das laut damaligem Sozialminister STIL als Vorbild hatte, gibt uns jetzt das gesetzliche Recht auf die entsprechenden Gelder vom staatlichen Sozialversicherungssystem. Der Assistenzbedarf wird in Stunden ausgedrückt. Diese Anzahl wird von einem Sachbearbeiter der Sozialversicherung im Gespräch mit dem Antragsteller festgestellt. Gegen das Ergebnis kann in der nächsten Instanz Einspruch erhoben werden. Es gibt keine ausdrückliche obere Grenze für die Anzahl der bewilligten Stunden. Eine Bekannte mit umfassender Behinderung, verheiratet, mit zwei Kindern im Alter von 4 und 6 Jahren, bekommt z. B. 27 Stunden pro Tag.

Die bewilligte Stundenanzahl berücksichtigt nicht nur grundlegende Bedürfnisse wie Assistenz beim Ankleiden, Aufstehen, Toilettenbesuch, Essen, Sich-Verständigen sondern auch Hilfe im Haushalt, Einkaufen, Saubermachen, Kochen, etc. und am Arbeitsplatz, Schule oder Studium sowie auf Reisen. Bei der Bedarfsermessung zählt in erster Linie die soziale Situation des Betroffenen, nicht die medizinische Diagnose. Dabei geht man u.a. von der in Schweden gängigen Verantwortungsverteilung für Haushalt und Familie aus. Damit bekommen wir die praktischen Voraussetzungen, uns von der angestammten Rolle als Familienbelastung zu emanzipieren und unsere Pflichten in Familie und Gesellschaft wie jeder andere zu schultern.

Die Anzahl der bewilligten Stunden wird mit dem von der Regierung festgesetzten Stundensatz von z. Z. höchsten umgerechnet öS 280 mutlipliziert. Der Betrag wird monatlich an das Konto des Assistenzbenutzers ausgezahlt. In der Summe inbegriffen sind bis zu öS 45 Verwaltungskosten, also Buchhaltung, Revision, Ausbildung, Mehrkosten für den begleitenden Assistenten bei Reisen, Kinobesuch, etc. Voller Kostennachweis ist vorgeschrieben. Das heißt: keine Schwarz- oder Grauarbeit unter stillschweigendem Einverständnis der Behörden wie in anderen Ländern, sondern volle Sozialleistungen und Versicherungen für unsere Arbeitnehmer. Nicht genutzte Stunden müssen voll zurückbezahlt werden.

Da das Sozialversicherungssystem Kostenträger ist – also die Stelle, die alle Alters- und Frührenten, Arbeitslosengelder, Krankengelder, Elternschutz etc. ausbezahlt, sind wir nicht mehr wie früher von der wirtschaftlichen Lage unserer jeweiligen Gemeinde und deren Prioritäten angewiesen, sondern können unsere Assistenzgelder überall im Lande – und auch im Ausland beziehen (solange wir in Schweden unseren ersten Wohnsitz haben).

Das Gesetz ist natürlich zu gut um wahr zu sein. Es gibt z. Z. nur etwa 6.200 Personen, die in den Genuß dieser Gelder kommen – bei einer Gesamtbevölkerung von 8,5 Millionen. Man darf nicht älter als 65 Jahre sein und muß mindestens 20 Stunden in der Woche Assistenz brauchen. Alle anderen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, sind auf die ambulanten Dienste der Gemeinden angewiesen, die dem Benutzer nur ein sehr beschränktes Maß an Selbstbestimmung zuteilen. Die Reform wurde 1994 von der damaligen konservativen Regierung eingeführt. Im Dezember machte die jetzige sozialdemokratische Regierung umfangreiche Kürzungsvorschläge publik. Seitdem ist die kleine aber lautstarke schwedischen Selbstbestimmt-Leben Bewegung hart am Arbeiten. Wir waren ca. 30 mal auf der Straße bei bis zu 17 Minusgraden und schneidendem Wind.

Alle politischen Parteien werden ständig von unseren Argumenten unterrichtet. Der offizielle Grund der Kürzungen sind die um ca. öS 1,4 Mrd. pro Jahr höher als ursprünglich geschätzten Kosten. Die wahren Gründe sind in der sozialdemokratischen Partei zu suchen, in der die z. Z. stärkeren „Traditionalisten“ lieber die alte Monopolstellung der Gemeinden auf dem Sozialsektor wiederherstellen möchten als den Betroffenen Selbstbestimmung zu ermöglichen, die von manchen als versteckter bürgerlicher Angriff auf den öffentlichen Sektor betrachtet wird.

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