Buchtip: „Klientenrechte“

Sozialpolitische Steuerung der Qualität von Hilfe und Pflege im Alter.

Ansicht eines offenen Buches
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Die Pflege alter und damit aus dem Reproduktionsprozeß ausgeschiedener Menschen wird bei zunehmender Lebenserwartung zu einem unübersehbaren Faktor der Sozialpolitik.

Vorliegendes Buch ist das Ergebnis einer 1993 in Baden bei Wien stattgefundenen Tagung zum Thema „Klientenrechte. Sozialpolitische Steuerung der Qualität von Hilfe und Pflege im Alter“. Die Teilnehmer, Ökonomen, Sozialwissenschaftler, Soziologen, Psychologen, Politologen, Juristen, Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Beamte des Sozial- und Gesundheitsministeriums sowie Leiter von Alters- und Pflegeheimen, faßten ihre Tagungsgbeiträge in knappen Aufsätzen mit Quellen- und Literaturangaben zusammen, wobei jedem Themenschwerpunkt eine Einleitung vorangestellt ist.

Die Gesamtschau ergibt einen tiefen Einblick in regionale und internationale Standards der Alten- und Behindertenpflege.

Dabei fällt schon beim Titel des Sammelbandes auf, daß die Begriffe „Patient“, „Insasse“, „Pflegefall“ oder gar „Pflegling“ aus dem Sprachgebrauch verschwunden oder, wenn in den einzelnen Beiträgen erwähnt, negativ besetzt sind und durch Worte wie „KlientIn“, „KundIn“ oder „AssistenznehmerIn“ ersetzt werden. Ein weiteres Charakteristikum zieht sich wie ein roter Faden durch alle Aufsätze: die Selbstbestimmtheit der Person, die Pflege in Anspruch nimmt.

Dennoch bestehen tiefe „Klüfte“ zwischen den im Buch wiederholt formulierten Mindestanforderungen und den tatsächlichen Gegebenheiten, wobei länderspezifische Regelungen zu Vergleichen anregen. Österreich bildet hier trotz der Einführung eines bundeseinheitlichen Pflegegeldes seit Juli 1993 leider allzuoft das Schlußlicht aller bisher erreichten Errungenschaften.

So werden „Patienten“ im sprichwörtlichen Sinn nach wie vor tagtäglich, mangels organisierter Nachbetreung und ohne Überblick über das Dienstleistungsangebot im häuslichen Pflegebereich, aus Krankenanstalten in die private Isolation entlassen, Einweisungen in psychiatrische Einrichtungen vorschnell veranlaßt und die dort Wohnenden im täglichen Routinealltag in ihrer Privatsphäre eingeschränkt. In zahlreichen österreichischen Pflegeheimen werden KlientInnen nach wie vor durch Bauchgurte, Bettgitter, sowie das sogenannte „psychiatrische Intensivbett“ (umgangssprachlich „Netzbett“ genannt) oftmals aus reiner Präventionsabsicht oder zur Entlastung des überforderten Pflegepersonals ihres Grundrechtes auf Bewegungsfreiheit beraubt.

An zahlreichen Beispielen, vorwiegend aus Deutschland und den Niederlanden, sind demgegenüber Projekte von gelungener Kooperation zwischen KlientInnen, Angehörigen und Anbietern von Pflegediensten angeführt. So zeigt etwa die Einrichtung der „Sozialgemeinde“ in der deutschen Stadt Mönchengladbach beachtliche Erfolge bei der Verbesserung der Kommunikation zwischen staatlichen Institutionen und privaten Initiativen in der Altenarbeit auf kommunaler Ebene.

In den Niederlanden wurde eine Untersuchung gemacht, in der die KlientInnen nach einer bestimmten Erprobungszeit darüber Auskunft geben sollten, ob sie Pflegegeld vor Sachleistungen bevorzugen. Die Ergebnisse der Studie veranschaulichen den hohen Stellenwert eines Pflegegeldes, das von den KlientInnen in Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit für ihren Pflegebedarf verwendet wird. So schreibt der Sozialwissenschaftler Theo Miltenburg dazu folgendes:

„In der qualitativen Forschung wurden positive Effekte des Pflegegeldes auf das tägliche Leben von Klienten festgestellt: Sie konnten frei über die Strukturierung ihres Tages entscheiden, das Verhältnis zu den Familienangehörigen wurde weniger belastet und die Beziehungen zu professionellen Pflegern (…) gleichwertiger empfunden. Insgesamt fühlten sich die Klienten freier und unabhängiger. Ein Teil der Klienten war der Meinung, daß das Pflegegeld es ihnen ermöglicht hat, zu Hause zu bleiben, anstatt in ein Pflegeheim zu gehen“.

Die Lektüre des Buches ist nicht nur für den an Altenbetreuung Interessierten von großer Wichtigkeit, viele Passagen lassen sich hervorragend auf die Situation jüngerer behinderter Menschen übertragen. Nicht umsonst beginnt der erste Aufsatz des Juristen Thomas Klie mit der UNO-Menschenrechtskonvention und dem Recht auf Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit und Wahrung der Privatsphäre.

In einem der wenigen praxisnäheren Beiträge plaudert Wolfgang Mizelli, der der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung angehört, aus der Schule und spricht von einer unbedingten Änderung des Machtverhältnisses zwischen Assistenznehmern und Pflegepersonen, indem erstere in jeder Situation für sich und ihre Pflege entscheiden. Die Quintessenz Mizellis lautet:

„Die Kontrolle über mich und mein Leben bleibt mir, egal ob ich für die Ausführung meiner Entscheidung Hilfe brauche oder nicht. Das bedeutet auch, daß ich das Recht habe, ungesund zu leben …“

Adalbert Evers/Kai Leichsenring/Charlotte Strümpel (Hrsg.): Klientenrechte. Sozialpolitische Steuerung der Qualität von Hilfe und Pflege im Alter. Tagung zum Europäischen Jahr der älteren Menschen und der Solidarität zwischen den Generationen (= Schriftenreihe „Soziales Europa 5“, Wien 1995). Verleger Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 323 S.

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