In der Sackgasse

Ein Kommentar von Uwe Frevert zur Umsetzung des Persönlichen Budgets in Deutschland.

Symbolbild: Sackgasse
BilderBox.com

Es gibt Zirkel von Fachleuten, die Regelungen entwerfen, um Menschen mit Behinderung zu mehr Autonomie zu verhelfen. Es gibt Gruppen, Interessenverbände und Politiker, die daraus Gesetze machen – meistens, um sich selbst zu beweihräuchern, aber manchmal auch, um den Menschen mit Behinderung Gutes zu tun.

All diese Leute treffen sich vorwiegend in Berlin. Von dort werden dann mit großem Brimborium und pathetischen Begleitreden die Gesetze verkündet, auf dass sie überall im Land umgesetzt werden.

Überall? Nein! Eine weitgehend unbedeutende Ortschaft, das niedersächsische Hannover, mag einfach nicht mitspielen. In diesem Provinzstädtchen wohnt ein Rollstuhlfahrer, der mit dem Kostenträger, der Region Hannover, im Rechtsstreit liegt (kobinet 9.12.12).

Angewiesen auf Pflege über Tag und zur Nacht, beantragt Michael Juhnke die Bewilligung eines Persönlichen Budgets zur Sicherstellung seines Pflegebedarfs. Die Versorgung findet zunächst nach dem Willen des Behinderten durch selbst beschaffte „ambulante Pflegekräfte“ im Rahmen des Persönlichen Budgets statt.

Im Rahmen einer „Hilfskonferenz“ wird zwischendurch versucht, ihm eine Versorgung durch einen Pflegedienst schmackhaft zu machen. Für die Region Hannover völlig unverständlich, schmeckt dem Behinderten dieses Angebot überhaupt nicht. „Bitte!“, sagt die Region Hannover, „Dann holen Sie sich Ihr Personal halt selbst, aber dann zahlen wir zukünftig nur 3.100,- Euro, mit 10,40 Euro Stundenlohn plus Sozialabgaben und Verwaltungsaufwandskosten, das muss reichen. Oder wie wäre es denn zum Beispiel doch mit einem Pflegedienst? Den würden wir …“

Es hilft nichts …

Es hilft nichts, der Rollstuhlfahrer aus Hannover mag nicht. Kein Pflegedienst, persönliche Assistenten sollen es sein. Punkt. Pflegedienste würden, sagt Michael Juhnke, seine Individualität einschränken. Was? Erst behindert und dann noch seine Individualität ausleben wollen? Wo kommen wir denn da hin! Die Region Hannover hebt den Bewilligungsbescheid für das Persönliche Budget auf.

Es sei ja eine Versorgung durch einen Pflegedienst bewilligt worden. Außerdem habe man einen geringeren Pflegebedarf für den Störenfried ermittelt. Aber, wendet sich Herr Juhnke dagegen, mit dem nun bewilligten Leistungsumfang könne er keine ausreichende Hilfe bezahlen, denn der Pflegedienst sei teurer.

Er zieht vor das Sozialgericht Hannover und ersucht um einstweiligen Rechtsschutz. Es sei keine Verringerung seines Pflegebedarfs eingetreten, und zu den Konditionen, die die Region Hannover nun annehme, sei keine ausreichende ambulante Versorgung zu erhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass die gegenwärtigen Pflegekräfte des behinderten Mannes unter den gegebenen Voraussetzungen, also mit weniger Lohn nicht weiter arbeiten wollen.

Das Gericht gibt ein Gutachten über den Fall in Auftrag. Auf 20 Seiten wird darin festgestellt, dass keine Rede von einer 24-Stunden-Pflege sein kann, wie sie der Behinderte gefordert hat. Es wird dagegen ein reiner Pflegebedarf von 7,51 Stunden pro Tag bei drei nächtlichen Hilfestellungen errechnet. Alles andere, so suggeriert das Gutachten, sei Ausfluss des „hohen Versorgungsanspruchs“ des behinderten Mannes. Diese errechnete Pflegezeit könne ein Pflegedienst jederzeit leisten.

Daraufhin beschließt das Gericht, dass der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen ist, denn der würde nur gewährt, wenn Eilbedürftigkeit vorliege. Das sei der Fall, wenn der Pflegebedarf nicht in „existenzsichernder Weise“ gewährleistet werden könne. Die Region Hannover aber habe dem Antragsteller ja die Finanzierung eines Pflegedienstes vorgeschlagen. Und außerdem: Der errechnete Stundenlohn von 10,65 Euro für ambulante Pflege sei nach Ansicht des Gerichts völlig ausreichend. Es sei gar nicht belegt, dass eine Versorgung für diesen Lohn nicht möglich wäre. Ein Anspruch auf ständige Betreuung bestehe „auch vor dem Hintergrund der Selbstbestimmung nicht“.

Gruselig?

Es kommt noch härter. Zitat aus dem Beschluss: „Zwar liegt unbestritten die Gefahr einer Unterversorgung des Antragstellers vor, da die Versorgung ab Februar 2013 nicht gesichert ist. Allerdings liegt diese Sicherstellung im Aufgabenbereich des Antragstellers, da dieser sich für die Möglichkeit eines persönlichen Budgets entschieden hat.“

Es klingt schon arg nach „klassischer Fall von selbst schuld“. Warum will der Mann auch keinen Pflegedienst? Der ist gesetzlich verpflichtet, auch die Pflegeeinsätze in der Nacht zu übernehmen. Jeder Pflegedienst hat für seine Zulassung unterschrieben, dass nächtliche Pflegeeinsätze gewährleistet würden.

Michael Juhnke aus der Provinzstadt Hannover hat es versucht. Nicht bei einem, sondern gleich bei mehreren Pflegediensten. Und jeder Pflegedienst hat einen Tag später bei ihm angerufen und erklärt, dass regelmäßig drei solche Einsätze in der Nacht überhaupt nicht durchführbar wären.

Damit schließt sich der Kreis.

Außen vor bleibt ein Mensch mit Behinderung, der tief in der deutschen Provinz von Pflegediensten, Gerichten und Behörden in eine Sackgasse manövriert wurde.

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