Inklusive Bildung braucht inklusive Diagnostik

Gutachten des Grundschulverbandes begründet eine pädagogische Alternative zur sonderpädagogischen Testdiagnostik

Schulgebäude von außen
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Wissenschaftler der empirischen Sonderpädagogik betätigen sich derzeit eifrig als bildungspolitische Wegbereiter für das „evidenzbasierte“ Diagnostik- und Förderkonzept „Response-to-Intervention (RTI)“, das von US-amerikanischen Sonderpädagogen entwickelt wurde und in den Staaten praktiziert wird.

Sie betonen die internationale Anwendung des Konzepts in inklusiven Settings, verschweigen aber die kontroverse wissenschaftliche Diskussion, die es zu RTI in den USA gibt und die sich langsam auch in Deutschland dagegen regt.

Die von Prof. Annedore Prengel ausgearbeitete Expertise für den Grundschulverband ist ein überzeugender pädagogischer Gegenentwurf zu dem ganz im Denken der traditionellen Sonderpädagogik verhafteten Modell. Er basiert konsequent auf einem umfassenden Inklusionsverständnis, das sich mit der Anerkennung von Vielfalt und nicht mit der bipolaren Einteilung von Menschen in Behinderte und Nichtbehinderte verbindet.

Das Interesse der Bildungspolitik an RTI

Es ist evident, dass die bislang üblichen Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs hochproblematisch sind. Sie erzeugen stigmatisierende Effekte und sind unvereinbar mit dem Recht auf inklusive Bildung. Sie geben vor, zuverlässige diagnostische Ergebnisse über den sonderpädagogischen Förderbedarf zu liefern.

Die extrem unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderquoten in den Bundesländern, ja sogar innerhalb eines Bundeslandes und einer Region – insbesondere bei Lern- und Entwicklungsproblemen – sind jedoch ein Beweis für das Gegenteil.

Der stetige Anstieg der Förderquoten in Deutschland legt nahe, dass die Kopplung der Ressourcenzuteilung an die Diagnose eines Förderbedarfs dazu beiträgt, dass bei einer immer größeren Zahl von Kindern und Jugendlichen ein solcher diagnostiziert wird.

Befürworter von RTI kritisieren an den Verfahren, dass Kinder erst gescheitert sein müssen, bevor sie zusätzliche sonderpädagogische Unterstützung bekommen. Mit RTI versprechen sie der Politik zum einen ein zuverlässiges „evidenzbasiertes“ Diagnoseinstrument und zum anderen ein „innovatives“ Präventionsprogramm für Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen.

Auf der Basis standardisierter Testdiagnostik soll bei den frühzeitig ermittelten „Risikokindern“ eine intensivierte Förderung mit standardisierten Förderprogrammen vorgenommen werden, die von einer engmaschigen Lernverlaufsdiagnostik auf ihre Wirksamkeit überprüft und stufenweise gesteigert wird.

Davon ausgehend, dass in der inklusiven Schule auch Sonderpädagogen einen festen Platz haben, bietet RTI auch gleichzeitig eine Arbeitsplatz- und Aufgabenbeschreibung für sie als Experten in sonderpädagogischer Testdiagnostik.

In Mecklenburg-Vorpommern, wo RTI als „Rügener Inklusionsmodell“ in einem Schulversuch erprobt wird, und in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, wo es als Modul in dem Lehrerfortbildungscurriculum zu Inklusion fest verankert ist, hat RTI offensichtlich bei den Schulministerien schon Wirkung gezeigt.

RTI – ein „Trojanisches Pferd“, das Inklusion untergräbt

Beth Ferri, Professorin an der amerikanischen Syracuse University, hat in Kenntnis des Wissenschaftsdiskurses in den USA eine kritische Einschätzung und Bewertung von RTI vorgenommen. Ihr Fazit lautet: RTI ist keine Reform, sondern eine Taktik, die darauf abzielt, zum Status Quo der alten segregierenden Sonderpädagogik zurückzukehren und viele der Grundannahmen der traditionellen Sonderpädagogik und Praxis wiederzubeleben.

Sie beschreibt und analysiert in ihrem Beitrag, wie RTI in den amerikanischen Schulen wirkt und Inklusion untergräbt. Ziel von RTI ist es, die „Risikokinder“ mit standardisierten Tests aufzuspüren, bevor überhaupt der Klassenlehrer gemerkt habe, dass sie Probleme haben. Indem RTI einen sonderpädagogischen Blick, der früher nur Kindern mit mutmaßlichem Förderbedarf galt, jetzt auf alle Kinder wirft, um frühzeitig Defizite und Fehlentwicklungen zu entdecken, erleben die allgemeinen Lehrkräfte RTI als Ausweitung des Ausleseprozesses.

RTI fördert so eine defizitorientierte Haltung gegenüber Schülerinnen und Schülern. Wenn ein Schüler trotz Förderung nicht erfolgreich lernt, ist die Ursache in der Person des Schülers zu suchen, da ja die angewendeten Instrumente der Diagnostik und Förderung als wissenschaftlich erprobt und fundiert gelten. Anstatt sich zu fragen, mit welchen pädagogischen Maßnahmen die soziale Teilhabe aller Kinder gesichert werden kann, stellen Lehrerinnen und Lehrer die Mitgliedschaft von sog. Risikokindern im Klassenzimmer in Frage. Da die Interventionen als rigide durchgeführte Instruktionen in der Regel außerhalb des Klassenzimmers ablaufen, ist die Botschaft für alle Beteiligten klar: Der Klassenraum ist eine behindertenfreie Zone. Die Stufen innerhalb von RTI wirken so als Teile eines stigmatisierenden Etikettierungsprozesses, auch wenn es offiziell um präventive Förderung geht.

Das Zauberwort „evidenzbasiert“

Ferri setzt sich auch mit dem Totschlagargument der RTI Anhänger auseinander. Diese punkten damit, dass ihre Konzepte „evidenzbasiert“ sind, da sie deren Wirksamkeit wissenschaftlich messbar nachweisen können. Damit begründen sie auch ihre Überlegenheit gegenüber Reformpädagogen, die sie verächtlich als „Inklusionisten“ bezeichnen.

Die Wissenschaftlerin stellt heraus, dass es trotz des Hype um RTI wenig seriöse Forschung zur Wirksamkeit von RTI gibt, und macht deutlich, dass RTI sich eigentlich nur selbst bestätigt. Es wirkt wie ein sich selbst erfüllendes Programm, das nie irren kann. RTI hat immer recht. Respondiert das Kind nicht, dann liegt die Ursache beim Kind und nicht bei RTI. Respondiert es in der gewünschten Weise, dann hat RTI gewirkt.

Wenn es trotz intensivster Förderung keine Lernfortschritte macht, dann hat es zweifelsfrei einen erwiesenen sonderpädagogischen Förderbedarf. Dass die Zahl der Kinder trotz der präventiven RTI Interventionen eben nicht signifikant gesunken ist, in den USA, kann also nach dieser Logik nicht gegen RTI ausgelegt werden.

Die Tatsache, dass Kinder nichtweißer Hautfarbe immer noch überrepräsentiert sind unter den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, kann analog auch die Behauptung nicht widerlegen, dass RTI universal anwendbar und frei von rassistischen Vorurteilen ist.

Ferri fasst die Art und Weise, wie die Sonderpädagogik sich die allgemeine Schule in den USA erobert hat, als ironischen Sachverhalt zusammen, der nachdenklich machen sollte: „Finally we might question the irony behind the fact that those pushing hardest against the inclusion of students with disabilities found a way to push themselves into general education practice with such ease – all it took was to push students with disabilities back out.“

Das inklusive Verständnis von Diagnostik

Prof. Annedore Prengels Expertise für den Grundschulverband stellt einen pädagogischen Gegenentwurf zu RTI dar, auch wenn sie an keiner Stelle explizit RTI erwähnt. Ihre Vorstellung von Diagnostik beginnt mit einem Bekenntnis zur Bescheidenheit, indem sie die Gültigkeit diagnostischer Aussagen mehrfach einschränkt.

Sie hängen ab von dem Erkenntnisinteresse und von dem Verhältnis zum Kind. Sie sind grundsätzlich dadurch beschränkt, dass sie lediglich nur einen Ausschnitt kindlichen Lernens und Lebens wahrnehmen und beeinflussen.

Das Ziel der Diagnostik in einem inklusiven Klassenzimmer besteht für Prengel nicht darin, „Fehlentwicklungen“ frühzeitig zu identifizieren. Inklusive Pädagogik misst Kinder nicht an einem Normalitätsverständnis, das vorschreibt, was Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt zu können haben.

„Das Prinzip der grundlegenden humanen Anerkennung setzt das Konstrukt des schlechten Schülers außer Kraft“. „Jedes Kind ist auf seiner Stufe kompetent“, so Prengel. Sie begründet dies mit einem menschenrechtlich fundierten Heterogenitätsverständnis, das auf dem grundlegenden Prinzip der Gleichheit beruht. Dieses Verständnis ist für die inklusive Bildung konstitutiv.

Es geht dabei um die Realisierung einer Gesellschaft, in der man nach der Formulierung von Adorno „ohne Angst verschieden sein“ kann.

Inklusive didaktische Diagnostik als Grundlage für Förderplanung

Da mit Inklusion die Zugehörigkeit aller Kinder zur allgemeinen Schule geklärt ist, wird „in der inklusiven Schule eine Diagnostik gebraucht, die dem Ziel dient, die individuellen pädagogischen Angebote innerhalb des binnendifferenzierenden Unterrichts zu begründen“.

Inklusive Diagnostik ist didaktische Diagnostik. Sie ist „in den alltäglichen Unterricht eingelassener Bestandteil des Lehrens und Lernens von Lehrkräften und Kindern und benötigt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine besonderen diagnostischen Verfahren und Tests“.

Didaktische Kompetenzstufenmodelle bilden die Grundlage für die didaktische Diagnostik. „Je klarer, diese Lernstufen den Lehrern im pädagogischen Alltag präsent sind, umso problemloser erkennen sie im Unterricht anhand der mündlichen, schriftlichen und kreativen Aktivitäten und Produkte der Kinder, auf welcher Stufe sich gerade jedes Kind befindet, was die Zone der nächsten Entwicklung ist und welches pädagogische Angebot zu diesem Zeitpunkt individuell passend ist.“

Didaktische Diagnostik nimmt das Kind als Subjekt seines eigenen Lernens ernst und ermöglicht ihm, seine eigene Leistungsentwicklung zu verstehen, die der anderen Kinder wahrzunehmen und zu achten und sich selber Ziele zu setzen. „Lernpässe“, „Lernlandkarten“ und „Pensenbücher“ helfen Kindern, ihre Lernschritte zu verfolgen und zu reflektieren.

Aufgabe der Sonderpädagogen in der inklusiven Schule

Sonderpädagogen haben wie Erzieherinnen, Sozialpädagogen ihren festen Platz neben den allgemeinen Lehrkräften im Kollegium einer inklusiven Schule. Sie kooperieren in multiprofessionellen Teams und tragen so zur pädagogischen Perspektivenerweiterung und zur Vermeidung von Überlastung bei.

Sonderpädagogische Kompetenz wird nach Prengel in zwei institutionellen Formen für die inklusive Schule vorgehalten. Ein Teil der Sonderpädagogen gehört zum Kollegium und arbeitet in Klassen und Jahrgangsteams. „Ein anderer Teil der Sonderpädagogen gehört zum Kollegium einer externen sonderpädagogischen Beratungsstelle, die für einen größeren Bezirk zuständig ist.“

Sie werden bei Bedarf angefordert, beraten die Lehrer in den Schulen und sorgen für die notwendige Materialausstattung.

Schieflage in der Lehrerfortbildung korrigieren!

Bettina Amrhein und Benjamin Badstieber haben im Auftrag der Bertelsmann Stiftung über 700 Fortbildungsveranstaltungen zum Thema „Inklusion“ analysiert. Sie haben festgestellt, dass fast jede zweite Fortbildungsmaßnahme der analysierten Stichprobe zum Ziel hat, Wissen und Kompetenzen zu sonderpädagogischer Förderung zu vermitteln.

Die Autoren konstatieren eine zwar erklärbare thematische Dominanz sonderpädagogischer Themenstellungen als Reaktion auf die UN-BRK. Sie sehen aber die Gefahr, „dass die Angebote damit weiterhin einer Integrationslogik folgen, der es mehr um eine bloße Anreicherung bestehender Strukturen und Praktiken der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischen Inhalten, als um einen tatsächlich grundlegend veränderten Umgang mit Heterogenität geht. Es ist zudem wahrscheinlich, dass diese Maßnahmen fast ausschließlich von sonderpädagogischen Fachkräften durchgeführt werden.“

Man könnte auch angesichts der Ergebnisse sagen, dass die Bildungspolitik den Weg zur inklusiven Schule verfehlt. Er führt nicht über die Sonderpädagogik. Damit ein grundlegender und langfristiger Wandel in Richtung Inklusion im Sinne eines willkommen heißenden Umgangs mit Heterogenität möglich wird,
 müssen Lehrerinnen und Lehrer lernen, die Grundsätze inklusiver Diagnostik und Förderplanung, wie Prengel sie vorschlägt, in ihren jeweiligen Schulen, unabhängig von der Schulart und Schulstufe, umzusetzen. Dafür muss jetzt dringend die Schieflage korrigiert und die Weiche in der Lehrerfortbildung und -ausbildung jetzt richtig gestellt werden.

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