BIZEPS-Kongress 2013: Selbstbestimmt Leben in Großbritannien

Mit Christiane Link als letzter Referentin unseres Kongresses "Wann wenn nicht jetzt?" hatten wir am 19. April 2013 eine Expertin eingeladen, die uns aus erster Hand berichten konnte.

Christiane Link beim BIZEPS-Kongress 2013
BIZEPS

Was ist an Erfahrungsschätzen auf der Insel als letzter Station unserer symbolischen Schiffsreise zur Persönlichen Assistenz zu entdecken? Die gebürtige Deutsche, die im Rollstuhl unterwegs ist, lebt als Journalistin und Aktivistin der Selbstbestimmt Leben Bewegung seit 2006 in London. Dort engagiert sie sich nicht zuletzt auch als Trainerin für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter großer Unternehmen, um diese im Umgang mit Menschen mit Behinderung zu schulen.

Sie hat als Betroffene den direkten Vergleich zwischen den Leistungen und Teilhabevoraussetzungen für Menschen mit Behinderung in Deutschland und Großbritannien. Zu ihren Beweggründen nach einem 6-monatigen beruflichen London Aufenthalt, zu bleiben, erklärt sie: „Ein Grund, warum ich in Großbritannien geblieben bin […], war, dass ich das Gefühl hatte, dass sich meine Lebensqualität im Vergleich zu Deutschland massiv verbessert hat, weil es einfach ein umfassenderes Konzept, was gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen in Großbritannien gibt.“

Inklusion ist ein Grundprinzip

Positiv hervorzuheben ist vor allem die Tatsache, dass Inklusion ein Grundprinzip ist. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen bekommen Assistenz. Grundsätzlich wird man unterstützt, in der eigenen Wohnung zu leben. Man muss gut begründen, wenn man in eine Sondereinrichtung will, die es kaum mehr gibt. Der Aufbau und Zugang zu Unterstützungsleistungen für ein Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung unterscheidet sich in Großbritannien grundsätzlich von jenem in Deutschland und in Österreich.

Die Unterstützungsleistungen in Großbritannien sind in einem System von Komponenten organisiert. Die finanzielle Förderung wird in einer Art von persönlichem Budget vergeben. Sie ist einkommensunabhängig und kann bis 65 beantragt werden. Grundsätzlich zielt sie darauf ab, behinderungsbedingte Mehrkosten abzugelten, um Chancengleichheit zu gewährleisten. Sie ist keine Leistung der Sozialhilfe.

Frau Link ging zuerst intensiv auf die Mobilitätskomponente ein, um die Leistung zu erklären, da diese sie persönlich am meisten betrifft. Neben einer Geldleistung können behinderte Menschen mit der höchsten Mobilitätskomponente zum Beispiel kostenfrei die öffentlichen Verkehrsmittel in London nutzen. Sie bekommen den EU-Parkausweis und eine Taxi-Card, um günstig Taxis als Alternative zu öffentlichen Verkehrsmitteln verwenden zu können. Da Taxis flexibler sind als Fahrtendienste und durch die gesetzlichen Auflagen auch barrierefrei sein müssen, werden Fahrtendienste kaum in Anspruch genommen.

Besonders interessant war die Tatsache, dass Betroffene auch an einem Autovertragsprogramm der britischen Regierung mit Automobilherstellern teilnehmen können. Diese Leasingverträge umfassen auch Versicherung und barrierefreien Umbau der Neuwagen. Die bisherige Leistung „Disablity Living Allowance“ wurde mit 1. April 2013 abgeschafft und durch das ganz ähnlich aufgebaute „Personal Independance Payment“ ersetzt.

Als österreichische Zuhörerin konnte ich erfahren, dass dies ganz ähnliche Probleme aufwirft wie die Verschärfung der Zugangsbedingungen zum Pflegegeld hierzulande. Einige Briten und Britinnen mit Behinderung werden die Leistung gar nicht mehr behalten und andere werden in bestimmten Bereichen nicht mehr so hohe Komponenten zuerkannt bekommen, wodurch sie andere Leistungen verlieren.

Frau Link berichtet von landesweiten Protesten. „Ich muss sagen, die britische Behindertenbewegung, ein Grund, warum ich mich ihr angeschlossen habe und mich relativ schnell sehr ehrenamtlich betätigt habe in Großbritannien, war, weil ich einen irren Respekt davor habe und hatte, wie professionell die arbeiten.“

Ebenso kam mir eine weitere Schwierigkeit durchaus bekannt vor, nämlich jene, dass für Pflege- und Assistenzleistungen im Privatbereich die jeweilige Gemeinde zuständig ist. Das erinnert sehr an den Föderalismus in Österreich.

„Also was Pflege angeht, also persönliches Budget kommt von den Gemeinden und es gibt in Großbritannien ein geflügeltes Wort in diesem Bereich, das heißt ‚Postleitzahlenlotterie’. Das hängt massiv davon ab, wo man lebt, was man bekommt.“, so die Expertin. Das ist wohl einer jener Aspekte, die man neben allen zu hebenden Schätzen getrost über Bord werfen müsste.

Großbritannien – Das Land der Zukunft für Menschen mit Behinderung?

Nicht nur Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Lernschwierigkeiten spielten nach Ende des Vortrages verständlicherweise mit dem Gedanken, nach Großbritannien auszuwandern. Ob es allerdings immer angenehm ist, dort auf Dauer seinen Anker auszuwerfen, ist zumindest aufgrund der negativen Berichterstattung in den Klatschblättern über angeblichen Missbrauch der Leistungen durch Menschen mit Behinderung und der daraus resultierenden Disability Hate Crimes (Diskriminierung und Gewalt), auch fraglich.

Über die Veranstaltung

Der Kongress zur Persönlichen Assistenz am 18. und 19. April 2013 in Wien wurde von BIZEPS-Zentrum für Selbstbestimmtes Leben organisiert und vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz gefördert. Fotos vom Kongress sind auf Flickr zu sehen. Hier finden Sie die Liste aller Vorträge.

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