Auf den spirituellen Spuren meines Lebens

Auch Schildkröten brauchen Flügel! Der Artikel istam 6. August 2009 in der Furche erschienen.

Kirche am Berg
Ladstätter, Peter

„Das bin ich?“, frage ich die Assistentin, die mir einen runden Handspiegel vor das Gesicht hält. Seit mindestens fünf Jahren betrachte ich das erste Mal mein Spiegelbild. Damals konnte ich den Spiegel noch mit den eigenen Händen halten. Dann ist die Lähmung der Beine zu den Armen hochgestiegen und ich konnte nicht mehr Autofahren, alleine die Zähne putzen, essen oder eben einen Spiegel halten.

Wenn man wie ich im Rollstuhl durch die Welt fährt, hängen die Spiegel so hoch oben, dass man nie in Gefahr kommt sehen zu müssen, wie unausgeschlafen man in der Früh ist. Assistentinnen ersetzen jetzt Spiegel und Hände. Kitzelt auf der rechten Wange spürbar eine Wimper, macht sich die Assistentin mit den Fingern auf die Suche. „Da ist nichts!“, heißt es regelmäßig. Ich: „Dann entferne bitte die unsichtbare Wimper“. Und insgeheim bin ich sicher, dass ich im Spiegelbild die Wimper sehen würde.

Ich sehe mein Gesicht nur sehr verschwommen. Sehschleier, seit drei Jahren. Eine Einschränkung, die für mich schwer zu akzeptieren war. Den Leuten nicht in die Augen sehen zu können, ständig im Nebel zu leben und Texte nicht lesen zu können, war mit Trauer und Enttäuschung verbunden. Enttäuschung, da anfangs die Hoffnung auf die Wiederkehr eines scharfen Sehens lebte.

Dann das Urteil des Augenarztes, als er von seinem Diagnosegerät aufsah: „Beide Sehnerven sind blass und nachhaltig zerstört“. Ich: „Kann sich das bessern?“ Der Arzt: „Nein. Keine Chance“. Das hieß für mich: einstellen auf ein Leben im Nebel und aufzupassen, dass der Nebel draußen bleibt und nicht in meinen Kopf einzieht.

Ich betrachte mein Spiegelbild. „Eigentlich hat sich nichts verändert“, denke ich mir, „zum Glück sehe ich meine neuen Falten nicht“. Da muss ich lachen. Früher bin ich oft vor dem Spiegel gestanden und habe mich über mich selbst amüsiert.

„Bin ich ein spiritueller Mensch?“, frage ich mich, da ich ein Referat zu diesem Thema halten soll. Keine Antwort. Weiß es die Assistentin? „Spirituell? Du?“, grinst sie, „eher ein Realist. Gläubig? Na ja. Kommt darauf an wie man Spiritualität definiert“. Die Assistentin startet für mich das Internet.

Was steht in Wikipedia: „Vom Lateinischen spiritus: Geist, Hauch oder Verbindung mit dem Transzendenten. Oder vom Lateinischen spiro: ich atme“. Erleichterung. Mit dem Atmen kenne ich mich aus. Vor allem seit zwei Jahren, als ich plötzlich nicht mehr atmen konnte.

Die Lähmung war zur Lungenmuskulatur hochgestiegen, ständige Müdigkeit, Schweiß und Erschöpfung, keine Kraft mehr zum Atmen und zum Essen. Atem ist Leben, das langsam aus mir zu entweichen schien. Als mich die Ärzte so sahen, völlig gelähmt, halb blind, mager und ausgelaugt, fragten sie meine Frau: „Will ihr Mann überhaupt noch leben?“.

Sie war von dieser Frage völlig überrascht. Wir wussten beide: natürlich wollte ich leben.

Danach verlor ich das Bewusstsein. Aus dem Tiefschlaf erwachte ich drei Wochen später mit einer künstlichen Beatmung. Ein Loch im Hals, ein Beatmungsschlauch und eine Maschine, die regelmäßig Luft in meine Lunge pumpt. Ich konnte nicht reden, konnte mich meiner Frau nicht mitteilen. Ein Schock. Mein Leben hing an einer Maschine. Konnte ich ihr vertrauen? Mühsam lernte ich Buchstaben und Wörter hervor zu gurgeln. Noch im Krankenhaus diktierte ich meiner Assistentin folgendes Gedicht:

Die Maschine
Leise schnurrt sie neben mir.
Ich atme, sie heult auf.
Ich atme aus, sie schnurrt friedlich.
Ich spreche, sie heult und zischt.
Ich rede schneller, ihr Heulen überschlägt sich.
Ich schreie, sie schreit schrill piepsend mit.
Ich halte den Atem an. Sie stößt Luft in mich hinein.
Ich beruhige mich.

Leise schnurrt sie vor sich hin.
Sie lebt durch mich und ich lebe durch sie.

Spiritualität in meinem Leben? Ich denke über mein Leben nach. Viele Abschiede von körperlichen Funktionen. Aber auch viele geistige Aufbrüche.

Erster Abschied und neuralgische Weggabelungen

Als Kind waren meine Beine
plötzlich gelähmt.
Ich weinte,

und verstand Gott und die Welt nicht mehr.
Da sprach Gott:
Ich nehme Dir die Kraft der Beine und schenke Dir die Langsamkeit.
So entdeckte ich eine neue Welt,
langsam am Boden kriechend.

Wer über sein Leben nachdenkt, bremst den Rollstuhl und hält inne. In meiner Biografie „Auch Schildkröten brauchen Flügel!“ habe ich viele Gleichheiten mit den kleinen Panzertieren gefunden: Sturheit, Willensstärke und Langsamkeit. Wie eine Schildkröte kroch ich die ersten neun Lebensjahre am Boden. Betrachtete die Welt von unten und sehnte mich danach die Höhenluft der anderen zu schnuppern.

Mit neun Jahren lernte ich mit Stützapparaten und Krücken zu gehen. Meine Motivation beim Training war die Aussicht, wie die anderen zu sein. Vielleicht war der Wunsch nach etwas schier Ungreifbarem meine erste spirituelle Erfahrung. Aber als ich gehen konnte, schien alles platt und realistisch. Spiritualität hat auch etwas mit Sehnsucht und Hoffnung zu tun.

Oft werde ich gefragt, woher ich die Kraft für mein Leben und meinen Humor nehme. Ich würde mit den Schultern zucken – wenn ich könnte. Die einzige stimmige Erklärung für mich sind meine Eltern, die sich zu ihrem behinderten Sohn bekannt haben und für ein normales Leben kämpften. Da war beispielsweise der Tag der Schuleinschreibung. „Nein, der Franzi kann nicht in die normale Volksschule gehen. Der Franzi ist anders. Da gibt es Spezialschulen“, hieß es seitens des Direktors.

Meine Eltern wollten mich nicht weggeben und so kamen sie ein Jahr später wieder zur Schuleinschreibung. Hartnäckigkeit, die bei einer Lehrerin Bewunderung auslöste. Sie erklärte sich bereit, „Es einmal zu probieren“. „Schulintegration“ war in den 70er Jahren noch ein Fremdwort.

Ich bekam einen gepolsterten Sessel und krabbelte in der Pause durch die Klasse und in den Gang. Dort spielte ich mit den anderen Kindern Wettrutschen. Darin war ich Meister. Meine schmutzigen Hosen quittierte meine Mutter immer mit der Bemerkung: „Dafür habt ihr wahrscheinlich die sauberste Schule von ganz Oberkärnten“. Für mich war das gemeinsame Leben und Lernen entscheidend für meinen ganzen weiteren Weg.

Viele meiner heutigen Freunde wurden in Behinderteneinrichtungen eingeschult und entwickelten das Feindbild: Die Normalen dort draußen – und wir hier drinnen. Ich hingegen sah keinen Unterschied zwischen mir und meinen KlassenkollegInnen. Nur etwas langsamer war ich mit meinen Krücken. Doch wenn mich jemand ärgerte, flog ihm meine Rache in der Gestalt von meiner Krücke schnell um die Ohren.

Jedoch kam es bald zur Versöhnung, da man mir die Krücke ja wieder zurückbringen musste. Meine Langsamkeit störte mich damals sehr. Erst später merkte ich, dass man die Welt detailreicher wahrnimmt, wenn man sich langsam fortbewegt. Und wurde Mitglied beim „Verein zur Verzögerung der Zeit“.

Zweiter Abschied und Loslösung von Eltern

Als Jugendlicher konnte ich plötzlich nicht mehr mit Krücken gehen.
Ich weinte,
und verstand Gott und die Welt nicht mehr.
Da sprach Gott:
Ich nehme Dir die Kraft in den Armen und schenke Dir dafür Witz und Ironie.
So entdeckte ich im Rollstuhl eine neue Welt
und brachte die Leute auf der Kabarettbühne zum Lachen.

Bis zur Matura wurde ich jeden Tag in der Früh von meiner Mutter angezogen und am Abend wieder ausgezogen. Als ich in Klagenfurt ein Studium beginnen wollte, wusste ich nicht, ob ich überhaupt selbstständig leben könnte. Die Loslösung von zu Hause fiel nicht einfach, aber der Eifer hatte mich gepackt. In meiner neuen Studentenwohnung probte ich die Selbstständigkeit und zog mich alleine an, was eine gute Stunde dauerte.

Aber ich war stolz über meine neue Unabhängigkeit. Auf der Uni erste Flirtversuche. Blicke. Nette Gespräche. Abfuhren: „Können wir es nicht bei einer Freundschaft belassen?“. Der Schuldige war schnell gefunden: Mein unansehnlicher Körper. Klein, Buckel, dünne und schief gewachsene Beine mit Operationsnarben.

Kurz: So ziemlich das Unspirituellste in meinem Leben. Ich begann Gedichte zu schreiben und mich mit meiner Lebenssituation auseinander zu setzen. Jeden Abend betete ich vor dem Einschlafen zu Gott: „Bitte lasse mich die richtige Frau kennen lernen“. Ich war davon überzeugt, dass sie irgendwo in dieser großen weiten Welt leben würde. Ich musste sie nur treffen.

Vielfach hört man, wenn man einmal im Rollstuhl sitzt, ist das Leben zu Ende. Das Gegenteil ist der Fall. Das Leben im Rollstuhl ist ein Abenteuer! Nicht zuletzt durch die Unsicherheit der Menschen erlebt man derart viele skurrile Dinge, dass man ganze Kabarettprogramme damit füllen kann, was ich im Übrigen auch getan habe.

Eine fast jenseitige Erfahrung machte ich, als ich einmal dringend in Wien auf die Toilette musste. Ich rollte in ein Beisl, die Toilette befand sich zu meinem Entsetzen im Keller. Zum Glück entdeckte ich zwei starke Männer bei einem Bier am Tisch. „Können Sie mir über die Stiegen hinunter helfen?“, fragte ich verzweifelt. Der eine Mann sagte knapp: „Nein“. Der andere: „Na herst, den könn mar do net anwischln lossen!“.

So wurde mir doch zähneknirschend geholfen. Als ich Hilfe beim Einsteigen in das Auto benötigte, sprach ich einen vorbeieilenden jungen Mann an. Er sah mich kurz an und sagte, „Tut mir leid, ich habe kein Geld“ und eilte weiter. Kopfschütteln meinerseits: „Das Licht-ins-Dunkel-Syndrom. Man sieht einen behinderten Menschen und denkt nur an das Spenden“, wie es der ORF zu Weihnachten Mitleid heischend propagiert.

Dritter Abschied und Aufbruch in die Politik

Jahre später konnte ich weder Arme noch Beine bewegen.
Ich weinte
und verstand Gott und die Welt nicht mehr.
Da sprach Gott:
Je weniger Du Dich bewegst, desto mehr bewegst Du.
So begann ich die Welt ein wenig zu verändern und wurde Politiker.

Als Radiojournalist verdiente ich mein erstes Geld und bat kurzerhand meine Interviewpartner, mich und mein Aufnahmegerät über die Stiegen zu tragen. Dann begann ich im Unterrichtsministerium zu arbeiten. Nette Kollegen, nette Arbeitsatmosphäre, eigenwilliger Humor. So sagte ein Kollege: „Bearbeite deine Akten, sonst montieren wir dir viereckige Reifen an den Rollstuhl!“.

Eines Abends ein unerwarteter Anruf. Ob ich für den Nationalrat kandidieren möchte? Mein Engagement für Behindertenanliegen war in der ÖVP aufgefallen. Heftige Diskussionen im Internet. „Darf man, soll man, kann man für die ÖVP kandidieren?“, fragte sich die Behindertenbewegung. Freunde verabschiedeten sich, was weh tat. Ich wurde Abgeordneter, da ich die Forderung nach Selbstvertretung von Betroffenen in der Politik ernst nahm.

Vieles ist trotz Unkenrufe in den letzten Jahren gelungen: Anerkennung der Gebärdensprache in der Verfassung, Behindertengleichstellungsgesetz oder auch die integrative Berufsausbildung.

Vieles bleibt zu tun: Die Geburt von einem behinderten Kind kann keinen Schadensfall darstellen! Die „eugenische Indikation“, wonach behinderte Embryos über die Fristenregelung hinaus bis zur Geburt getötet werden dürfen, stellt eine unerträgliche Diskriminierung dar. Die Gleichstellung muss umgesetzt werden. Es kann nicht sein, dass man auf die Frage, „wann kommt der nächste barrierefreie Zug?“, zur Antwort bekommt: „Im Jahr 2014“.

Vierter Abschied und die große Liebe

Heute kann ich plötzlich nicht mehr ohne Maschine atmen.
Ich weine,
und verstehe Gott und die Welt nicht mehr.
Da schweigt Gott – noch.

In meinem Leben ist für Spannung gesorgt. Spirituelle Nahtoderfahrungen? Ja, den Tunnel gab es. Mit 130 km/h fuhr ich im Auto auf ihn zu. Ich bremste, ein folgeschwerer Fehler. Mein Renault 4 kam ins Schleudern krachte gegen eine Felswand und blieb als Wrack im Tunneleingang stehen.

Als mich später Rettungsleute aus dem völlig zerstörten Auto holten, meinte einer zum anderen: „Hast du das Auto gesehen, es ist ein Wunder, dass der noch lebt“. Ich glaubte schon, dass mir überhaupt nichts passiert sei, doch da sagte der untersuchende Arzt stotternd: „Ich glaube, Sie werden nicht mehr gehen könne“. Ich: “ Nein, nicht schon wieder!“

Bei einem Wespenangriff merkte ich, wie hilflos ich selbst so kleinen Tierchen ausgeliefert bin. Bei einem Sturz im Winter hoffte ich auf Hilfe, sie kam. Als ich mich wieder einmal in der Wanne badete, rutschte ich aus, der Kopf tauchte unter das Wasser, Atemnot, panische Suche mit der Hand nach dem Griff. Ich ertastete ihn, zog mich an die Wasseroberfläche und bekam wieder Luft.

Meine Frau Judit meint heute, dass sie niemanden kennt würde, der ein so großes Gottvertrauen hätte wie ich. Vielleicht bin ich gläubiger als ich mir selbst eingestehen möchte. Vielleicht hänge ich so sehr am Leben, dass ich zwar den Tunnel sah, aber nie das strahlende Licht an dessen Ende.

Trotz Nahtoderfahrungen hatte ich dabei nie eine spirituelle Begegnung mit dem Transzendenten. Zuletzt hing mein Leben vor drei Jahren an einem seidenen Faden. Ich lag drei Wochen im künstlichen Tiefschlaf. Die ärztlichen Prognosen waren ungewiss. Werde ich wieder im Rollstuhl sitzen können, hat der Sauerstoffmangel mein Gehirn beeinträchtigt? Werde ich wieder sprechen können? …

Die Krise konnte ich bewältigen dank meiner Frau Judit. Sie war an meiner Seite und gab mir Kraft und Mut zum Weiterleben. Einst hatte ich gebetet, sie kennen zu lernen. Bei einer Lesung auf der Universität, die sie für „barrierefreies Studieren“ organisierte, waren wir uns begegnet. Zufall? Schicksal? Gottesfügung? Ich war glücklich und hörte aus Zufriedenheit gleich einmal zu beten auf. Erst später erkannte ich Gottes Plan: Judit ist sehr gläubig und so besuchen wir jeden Sonntag die Kirche.

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