Buchtip: Totenwagen

"Ein Mensch, nicht mehr aber auch nicht weniger."

„Die Straße mit ihrem grauen Asphaltbelag wurde spiegelglatt – Spiegelgrund. Grundloser Boden. Kein Halt, abschüssige Straße. Angst, schreckliche Angst. Ich blieb stehen und schrie. Meine Angst steigerte sich bis zur totalen Lähmung. Hilflos war ich einem Etwas ausgeliefert. „

Sonderschule, Sonderspital, Sonderanstalt, Sonderabteilung – ein „Mensch mit besonderen Bedürfnissen“ (= angeblich politisch korrekte Bezeichnung für „behindert“) zu sein, das bekommt einen ganz neuen Klang, eine erschreckende Dimension während der Lektüre des Buches „Totenwagen“ von Alois Kaufmann.

Der heute 66jährige Pensionist, der einen nahezu zweijährigen Aufenthalt in der Wiener NS-Fürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ er- und überlebt hat, erzählt in seinem Buch von dieser Zeit, die seine Kindheit war.

Er erzählt vom grünen „Totenwagen“, in dem die Kinderleichen abtransportiert wurden, von „Schlemperkuren“ in eiskaltem Wasser zur Disziplinierung der Buben und von der „Staatskrankheit des Dritten Reiches“, der Lungenentzündung.

Mit seiner unprätentiösen, ruhigen und distanzierten Sprache nimmt das Buch vom ersten Augenblick an gefangen -es entläßt seine LeserInnen nicht mehr so ohne weiteres aus dem Leben des Alois Kaufmann und seiner „Mitzöglinge“, seiner grausamen PeinigerInnen und der willfährigen MitläuferInnen, die ein entmenschtes System mitgetragen haben.

Wenn Unwissenheit und Angst, Verhetzung und Manipulation zur Maxime staatlichen Handelns werden, das den Wert menschlichen Lebens primär nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung bemißt, dann, so lehrt es uns die Geschichte, ist der vorgeblich „schöne Tod“, die „Euthanasie“, nicht mehr weit.

Alois Kaufmann, Friedrich Zawrel und die anderen noch überlebenden „Kinder vom Spiegelgrund“ warten seit 55 Jahren auf ein Zeichen der Republik Österreich – ein Zeichen der Anerkennung ihrer leidvollen Geschichte, die ihr Leben fast zerstört hätte.

Dr. Heinrich Gross war NS-Arzt „Am Spiegelgrund“ und als solcher „mitbeteiligt an der Tötung hunderter, angeblich geisteskranker Kinder“, wie ein Gerichtsurteil des Oberlandesgerichtes Wien aus dem Jahre 1981 bestätigt.

Heinrich Gross war aber auch der bis vor kurzem meistbeschäftigte Gerichtsgutachter der II. Republik und ist nach wie vor Träger einer der höchsten Auszeichnungen, die die Republik zu vergeben hat: Seit 1975 darf er sich mit dem „Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst Erster Klasse der Republik Österreich“ schmücken.

Heinrich Gross ist heute 85 Jahre alt, schwerhörig und will nur noch seine „Ruhe haben“. Im Übrigen will er vergessen haben, was er als junger, aufstrebender Arzt an den Kindern „Am Spiegelgrund“ verbrochen hat.

Alois Kaufmann, Totenwagen.
Kindheit am Spiegelgrund.
UHUDLA Edition, ISBN: 390156113 7
Preis: 228 Schilling

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