Der Rollstuhltag – oder wie aus vermeintlichen Mücken echte Elefanten werden

Manch einer sieht sie als die "schwachen Glieder" der Gesellschaft, andere als lästige Sozialhilfeempfänger, viele als eine relativ kleine Gruppe, die sich - zum Glück - in Österreich ruhig verhält. Ein Bericht von Natasha Macheiner.

Nichtbehinderte Menschen erkunden im Rollstuhl die Umgebung
Hloch, Johannes

Die Rede ist von Rollstuhlfahrern. Unauffällig sind sie und nur vereinzelt anzutreffen. Perfekt. Sich mit den Anliegen dieser „Randgruppe der Gesellschaft“ beschäftigen? Nein! Wozu denn? Außer man wechselt die Perspektive, wie beim 1. Rollstuhltag von Wiener Neustadt.

Laut dem Behindertenbericht 2008 des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Kosumentenschutz leiden 13 % der österreichischen Bevölkerung an „dauerhaften Mobilitätsproblemen“. Das sind in Zahlen ausgedrückt an die ein Millionen Menschen. „Was die Stärke der Beeinträchtigungen betrifft, leiden hochgerechnet 6,1 % der Wohnbevölkerung unter dauerhaften Bewegungsbeeinträchtigungen mittlerer Stärke, bei 4,3 % sind sie schwerwiegend und bei 2,7 % leicht“, heißt es im Bericht weiter.

Rund 50.000 Personen sind auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Derzeit. Von einer kleinen Gruppe kann man also wohl kaum sprechen, vor allem wenn man die Zahl aller Menschen betrachtet, die an Mobilitätsproblemen leiden.

Ebenfalls ein dummes Vorurteil: von „lästigen Sozialhilfeempfängern“ zu sprechen. Denn unzählige Rollstuhlfahrer stehen – wenngleich auch im Sitzen – mitunter überaus erfolgreich ihre Frau bzw. ihren Mann. Die besten Beispiele: Brigitte Haberstroh, ihres Zeichens nicht nur Obfrau der Straßenzeitung Eibisch-Zuckerl, sondern auch Lehrerin an der HTL Wiener Neustadt, Christian Pinkernell, Eigentümer des In-Lokals „Backstage“, sowie Gerhard Frank, langjähriger Mitarbeiter des Österreichischen Paralympischen Committees. Sie waren es, die zum ersten Rollstuhltag in Wiener Neustadt geladen haben.

Wenn Prominente die Perspektive wechseln

Dazu eingeladen wurden Prominente der Stadt aus Politik, Wirtschaft und dem öffentlichen Leben. Diese wechselten für eine Stunde lang die Perspektive und „erfuhren“ – im wahrsten Sinne des Wortes – ihre Stadt.

„Die Idee war – ähnlich wie der Dialog im Dunkeln – Menschen, die nicht im Rollstuhl sitzen, zu zeigen, wie das ist. Aus diesem Grund haben wir eine Art Parcours mit verschiedenen Aufgaben zusammengestellt“, erzählt Brigitte Haberstroh.

Wenn aus vermeintlichen Mücken echte Elefanten werden

So mussten alle Teilnehmer über verschiedene Untergründe fahren, wie etwa einen Gartenschlauch oder verschiedene Fußmatten. Stadtrat Dieter Kraupa wurde aufgefordert einen Stadtplan aus dem Verkehrsamt der Stadt zu besorgen, auch kein leichtes Unterfangen. „Der Fußstaffel hat irrsinnige Probleme bereitet. Einem Fußgänger fällt das nicht auf. Dazu muss man wirklich selbst im Rollstuhl gesessen haben“, so der Stadtrat über seine Erfahrungen.

Nichts mehr ist plötzlich selbstverständlich

Wie problematisch alltägliche Dinge wie Geld beheben werden können, erfuhr Grüne-Gemeinderätin und Nationalratsabgeordnete Tanja Windbüchler-Souschill. Wie anfahren, dass man auch die Tasten sieht und Spiegelungen nicht zur Beeinträchtigung werden, war die Frage. „Es war spannend zu erfahren, wie sehr sich der Blickwinkel verändert, nur weil man einen halben Meter kleiner wird. Auf einmal sieht man, wie schräg die Straßen sind oder wie schwer es manchmal sein kann, dort hinzugelangen, wo man hinmöchte“, so die Gemeinderätin. „Man glaubt gar nicht, welch winzige Barrieren ein großes Hindernis darstellen, sogar Spalten zwischen Pflastersteinen können gefährlich werden“, war auch Manfred Fries von der Stadtpolizei überrascht.

Nicht nur Rollstuhlfahrer sind betroffen, sondern alle mit Gehproblemen

Ebenfalls überraschend: die Zufahrt zu Geschäften. „Es gibt eine Vielzahl unnötiger Stufen, wo man auch Rampen hätte bauen können. Vor allem sind von all diesen Hindernissen ja nicht nur Rollstuhlfahrer betroffen, sondern alle Menschen mit Bewegungseinschränkungen. Selbst Menschen mit Kinderwägen würden sich leichter tun“, so Andreas Krenauer, Stadtrat für Soziales.

Stadttheater bleibt Rollstuhlfahrern verwehrt, ebenso wie öffentliche WC-Anlagen

Besonders entrüstet zeigten sich die Teilnehmer über die Tatsache, dass der Besuch des Stadttheaters Rollstuhlfahrern quasi verwehrt wird. So gelangt man an Vorstellungstagen zwar über Unwege ins Theater, es fehlen aber behindertengerechte WC-Anlagen, wodurch der Besuch fast unmöglich wird.

Überhaupt sind öffentliche WC-Anlagen ein Problem, nur eines ist tatsächlich behindertengerecht. „Das ist in einer Stadt wie Wiener Neustadt ein bisschen wenig. Hier gibt es massiven Aufholbedarf im öffentlichen, wie auch privaten Bereich“, ist Wolfgang Schottleitner vom gleichnamigen Immobilienbüro überzeugt.

Die soziale Komponente

Für Historiker und Gemeinderat Mag. Dr. Michael Rosecker und Restauranteigentümer Evris Mavrofrydis war dieser Nachmittag noch mit einer anderen Erfahrung verbunden. Die Reaktion jener Menschen, die mich kannten war bemerkenswert.

„Die Blicke, das Wegschauen. Ich nehme heute einige Erfahrungen mit nach Hause.“, so Rosecker. „Ich finde es traurig, wie Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, z.B. können sie eben nicht ins Theater oder ein Lokal gehen, weil es keinen Lift oder keine Rampe gibt, da muss etwas geändert werden.“

In Wiener Neustadt ist viel geschehen – aber der Aufholungsbedarf ist offensichtlich

„In Wiener Neustadt hat sich wahnsinnig viel getan, das muss man wirklich sagen. Wir haben heute Behindertenparkplätze, Auffahrten und Rampen. Trotzdem ist noch Aufholbedarf. Ich würde mir z.B. mehr Mitspracherecht wünschen, wenn Geschäftslokale oder Behörden u.ä. neu gebaut werden, denn man könnte am Beginn mit geringem finanziellen Aufwand viel erreichen.“, so Mitorganisator Christian Pinkernell.

Zusammengefasst war dieser erste Rollstuhltag ein voller Erfolg. „Ich bin dankbar für diese Möglichkeit des Perspektivenwechsels, denn nur so kann man die Anliegen auch tatsächlich verstehen“, so Stadtrat Horst Karas abschließend.

Und sich für die Anliegen von Rollstuhlfahrern und allen mobilitätseingeschränkten Menschen einzusetzen lohnt sich, denn schließlich kann es jeden treffen, und das oft schneller als man glauben möchte.

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