Deutschland: Persönliches Budget jetzt Regelleistung

Mit Gongschlag Mitternacht wurde die Finanzierungsform "Persönliches Budget" in Deutschland von der "Kann-Leistung" zur "Regelleistung".

Elke Bartz
bifos

Richtig angewendet kann es zu einem Instrument für mehr Selbstbestimmung behinderter Menschen werden. Das sagt Elke Bartz, Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA e.V.) in einem Interview mit den kobinet-nachrichten.

kobinet: Elke Bartz, es ist soweit. Seit heute gibt einen Rechtsanspruch auf das Persönliche Budget. Ist das ein Grund zur Freude oder eher zur Besorgnis?

Elke Bartz: Erst einmal: Das Persönliche Budget kann schon seit dem 1. Juli 2001 im gesamten Bundesgebiet beantragt werden; und seit dem 1. Juli 2004 lief die Modellphase. Lediglich das Verhalten etlicher Kostenträger ließ den Eindruck aufkommen, dass Anträge erst ab heute gestellt werden können. Ansonsten gibt es, meiner Meinung nach, mehr Grund zur Freude als zur Besorgnis.

kobinet: Wie war das Verhalten der Kostenträger?

Elke Bartz: Abwartend bis ablehnend. Wobei es auch außerhalb der Modellregionen immer wieder auch solche gab, die den Persönlichen Budgets positiv gegenüberstanden und die Modellphase nutzten, um Erfahrungen zu sammeln. Doch eine große Anzahl spielte „toter Mann“ und verweigerte sogar gegen das Gesetz die Annahme von Anträgen mit dem falschen Hinweis, man sei keine Modellregion.

kobinet: Und warum überwiegt die Freude gegenüber der Besorgnis?

Elke Bartz: Wenn das Persönliche Budget im notwendigen Leistungsumfang bewilligt worden ist, ermöglicht es wesentlich mehr Flexibilität und Selbstbestimmung bei der Organisation der Leistungen. Natürlich ist die Bedarfsdeckung die wichtigste Voraussetzung und es kann nicht geleugnet werden, dass einige Kostenträger im Budget die Möglichkeit sehen, Kosten zu reduzieren. Das ist ja auch dann nichts Verwerfliches, wenn an der Verwaltung und nicht an den originären Leistungen gespart wird.

Wenn Sozialhilfeträger, wie zum Beispiel die Sozialagentur Halle, versuchen, die Kosten zu senken, indem sie beispielsweise für Persönliche Assistenz einen Stundensatz von 6.55 Euro brutto bewilligen wollen, kann das natürlich nicht hingenommen werden. Ich denke, gute Beratung wie sie beispielsweise ForseA und die Zentren für selbstbestimmtes Leben bieten, ist derzeit noch das „A und O“ um ein angemessenes Budget zu beantragen und zu bekommen.

kobinet: ForseA berät behinderte Menschen und deren Angehörige zum Persönlichen Budget. Gibt es Fragen, die immer wieder gestellt werden?

Elke Bartz: Ja, die gibt es tatsächlich. Gerade auch in den letzten Tagen kamen mehrere Anrufe mit den Fragen: Ich möchte ein Persönliches Budget beantragen. Was steht mir da zu? Wo kann ich ein Persönliches Budget beantragen? Wo bekomme ich Antragsformulare?

kobinet: Und wie lauten die Antworten?

Elke Bartz: Zunächst einmal bin ich oft verwundert darüber, wie viel Unwissenheit trotz hunderter Infoveranstaltungen es noch gibt. Aber zu den Fragen: Es steht jedem genau das an Leistungen zu, auf das er bzw. sie auch ohne Budget einen Rechtsanspruch hätte. Ich kann immer nur betonen, dass das Persönliche Budget „nur“ eine neue Finanzierungsform und keine neue Leistungsart ist.

Anträge auf das Persönliche Budget können bei jedem Träger der Rehabilitation, den Integrations- und Jugendämter, und nicht zuletzt bei den Gemeinsamen Servicestellen gestellt werden. Und Antragsformulare gibt es nicht. Ein Antrag wird formlos gestellt. Wenn dann, zum Beispiel beim Sozialamt wegen der Ermittlung von Einkommens- und Vermögensverhältnissen Fragebögen ausgefüllt werden müssen, werden diese automatisch zugesandt.
kobinet: Das heißt, das Persönliche Budget ist einkommens- und vermögensabhängig?

Elke Bartz: Wie schon gesagt: es ist lediglich eine andere Finanzierungsform. Die Sozialgesetzbücher, also auch das SGB XII (Sozialhilfe) gelten weiterhin. Im Klartext bedeutet das leider, dass Leistungen nach dem SGB XII im Gegensatz zum Beispiel zu Leistungen des Rentenversicherungsträgers nach wie vor einkommens- und vermögensabhängig sind. Das enttäuscht viele behinderte Menschen, die gehofft haben, durch das Persönliche Budget den Klauen der Sozialhilfe entrinnen zu können.

kobinet: Also doch nur Augenwischerei?

Elke Bartz: So würde ich das nicht sehen. Diejenigen, die bereits mit einem Persönlichen Budget ihre Leistungen organisieren, sagen zu über 90 Prozent, dass sie dadurch mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität gewonnen haben und sie sich ein Leben ohne das Budget nicht mehr vorstellen können.

kobinet: Wird jetzt eine Antragsflut erwartet?

Elke Bartz: An eine Flut glaube ich zwar nicht, aber ich denke schon, dass viele bis zum heutigen Tag mit der Antragstellung gewartet haben. Dazu zählen auch Diejenigen, die zuvor keinen Kontakt zu entsprechenden Beratungsstellen wie ForseA und ISL hatten und sich deshalb aus Unkenntnis von den Kostenträgern „abwimmeln“ ließen.

kobinet: Das heißt, wir dürfen gespannt sein, wie sich das Persönliche Budget in den kommenden Monaten weiterentwickeln wird?

Elke Bartz: Ja, das auf jeden Fall. Und wenn ich meinen Terminkalender anschaue, wird jetzt schon deutlich, dass das Persönliche Budget auch in diesem Jahr eines der „Toppthemen der Behindertenarbeit“ bleiben wird.

kobinet: Elke Bartz, ich danke für das Gespräch.

Das Gespräch führte kobinet-Redakteur Harald Reutershahn.

Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich
Hier beginnt der Werbebereich Hier endet der Werbebereich