Integration darf nicht zum Dogma werden

Es ist nicht immer der beste Weg, geistig behinderte Kinder in Regelschulen zu schicken.

Schule
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Dieser Artikel ist in „Die Presse“ erschienen:

Sonderpädagogische Zentren sind oft weit erfolgreicher. Aber viele Eltern befürchten, ihre Kinder werden als „Sonderschüler“ abgestempelt.

Die Karl-Schubert-Schule ist eine Einrichtung für „Seelenpflege-bedürftige Kinder in Wien“. In der 6. Klasse sind gerade drei Betreuer im Einsatz. Fünf Kinder, alle mit unterschiedlichen zerebralen Schäden, sitzen im Kreis, in der Mitte liegt ein Leintuch auf dem Boden. Maximilian holt – unter Anleitung – eine Kugel und legt sie darauf, Julia Taschentücher, Philipp eine Kerze.

Im Nebenzimmer führt die Kindergartengruppe ein Singspiel auf. Alle, auch die Betreuerinnen, sind verkleidet, die Kinder machen mit, so gut sie können. Ein Bub liegt in einer Art Sitzsack daneben. Scheinbar teilnahmslos, aber wer weiß, was er nicht doch alles mitbekommt?

In hellem Holz getäfelte oder rosa ausgemalte Räume, freundliche Farben, Kuschelecken mit Schaffellen, viele Pflanzen und ein herrlicher Garten. In der Schule in Mauer, wo nach der Waldorf-Pädagogik unterrichtet wird, herrscht sonnige Stimmung. „Der sonnigste Platz, wo ich jemals gearbeitet habe“, sagt Klaus Podirsky, der eine 11. Klasse unterrichtet. Seine Schüler sind „nur“ teilleistungsschwach und peilen Hauptschulniveau an.

Wie in der Waldorfpädagogik üblich, werden eine „Epoche“ lang bestimmte Fachgebiete erarbeitet, bis nach einigen Wochen ein neuer Gegenstand an die Reihe kommt. Zusätzlich gibt es ständig Musik, Eurythmie, Sprachübungen, Physiotherapie und mehr. Bei der wöchentlichen „Kinderkonferenz“ widmen sich die 50 Mitarbeiter jeweils einem der 100 Kinder, besprechen Krankheit, Familiensituation, und stellen ein Zukunftsziel auf. „Das Kind spürt: ,Die kümmern sich um mich.'“

Therapeutischer Ausgleich
Daß in den Klassen verschieden (schwer) behinderte Kinder eine Gemeinschaft bilden, ist laut Michael Mullan ein großer Vorteil, weil dadurch „ein gegenseitiger therapeutischer Effekt erzielt werden kann“. Ein Kind mit einem Down-Syndrom (offen, warm) und ein Autist (zurückgezogen) können „an ihren polaren Grundhaltungen gegenseitig aufwachen“.

Die „gesunde Mischung“ der Klassen sei heute allerdings schwerer zu erreichen, klagt Mullan. „Seit zwei, drei Jahren spüren wir, daß im Zuge der Integration viele Kinder, vor allem im Volksschulbereich, die hier besser aufgehoben wären, woanders hingehen.“ Die Eltern wollen nicht, daß ihre Kinder den Stempel „Sonderschüler“ aufgedrückt bekommen. In der Sonderschule landen somit nur mehr Schwerstbehinderte oder jene, deren Integration in die Regelschule nicht klappen will.

Ein Trend, den man in der Karl-Schubert-Schule bedauert. „Wir wollen keine Aussonderungsschule sein, sondern eine besondere Schule“, betont Podirsky. Für viele Kinder wäre es besser, früher zu kommen, „bei den Kleinen erreicht man mehr“.

Podirsky kritisiert, daß Integrationskinder in der Regelschule trotz aller guter Absichten „eigentlich Sonderschüler bleiben“. Die Integration beschränke sich häufig auf Begrüßung, Werken, Turnen; der therapeutische Teil komme zu kurz. Die Lehrer bekämen erst ab drei Behinderten einen Heilpädagogen zur Verstärkung und seien daher manchmal überfordert.

Häufig würden die Sonderschüler in ein Extrakammerl verbannt; „sie kriegen den Unterschied mit und denken ,jetzt sind wir zu blöd, jetzt müssen wir raus'“, erzählt eine Lehrerin. Eher profitieren gesunde Kinder von dieser Art der Integration, weil sie soziale Toleranz lernen.

Ein Wechsel ist möglich
Judith Ivancsics, die im dritten Bezirk in der Volksschule Löwengasse als Betreuerin für die Integrationsschüler, genannt „I-Kinder“, zuständig ist, glaubt, daß die obengenannten Probleme eher in den Hauptschulen auftreten.

In ihrer Klasse (fünf Schüler von 21 sind behindert), die sie gemeinsam mit der „normalen“ Volksschullehrerin betreut, funktioniert das Zusammenleben der Schüler sehr gut. „Die Kinder haben einen natürlicheren Zugang zu Menschen, die nicht so sind wie sie. Sie akzeptieren das“, so Ivancsics.

Die Kinder werden möglichst gemeinsam unterrichtet (Spielen, Zeichnen, Turnen, Sachunterricht); im Rechnen, Schreiben und Lesen sind sie getrennt. Die Eltern haben ihre anfänglichen Ängste, daß durch die Behinderten das Niveau gedrückt werden könnte, längst überwunden.

Für die Eltern der I-Kinder ist es wiederum wichtig, daß diese liebevoll in die Klassengemeinschaft aufgenommen und nicht abgestempelt werden. Die Lehrer geben freilich, wenn auch nur zaghaft zu, daß nicht jedes Kind integrierbar ist – „aber wer die Integration kritisiert, gilt als asozial“.

„Es gibt nicht richtig und falsch“, erklärt Gerhard Tuschel, Landesschulinspektor für Integration und Sonderschulen in Wien. Die Entscheidung zwischen Sonder- und Regelschule liegt bei den Eltern, ein Wechsel ist möglich. Derzeit wählen rund 54 Prozent der Eltern die Integration in die Regelschule.

In 487 Wiener Klassen sind Behinderte integriert. Tuschel ist bemüht, eine „Mischung zu erreichen“, also etwa auch in sonderpädagogischen Zentren, wie die Sonderschulen heute heißen, Klassen mit weniger schwer Behinderten zu führen.

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