"Der Standard": 13-Jähriger muss immer wieder operiert werden, seine Mutter berät Betroffene
Die Lebensgeschichte von Mario ist im „Der Standard“ erschienen:
„Als Mario das erste Mal ein neues Gesicht erhielt, war er sechs Monate alt. Sechzehn weitere Gesichter sollten folgen. Allein in den vergangenen beiden Jahren ist Mario drei Mal aus der Narkose aufgewacht, hat den Kosmetikspiegel seiner Mutter genommen und stets jemand anderen darin erblickt.
„Ich habe Apert-Syndrom“, sagt Mario, wenn ihn Leute komisch anreden. Manchmal versteckt er sich hinter seiner Mutter und tut so, als würden die Blicke an ihm abgleiten wie Wasser an einem Regenmantel. Sie tun es natürlich nicht, an Mario genau so wenig wie an seiner Mutter Maria Brandl. Sie hat daher das EU-Projekt „Eltern beraten Eltern“ initiiert, das einzige, bei dem die psychosoziale Situation der Eltern von Behinderten im Mittelpunkt steht. „Man identifiziert sich mit dem Kind“, sagt die 44-Jährige, „Die Eltern wollen stark sein, brauchen dabei aber die meiste Hilfe.“
Maria Brandl hat lange nicht gewusst, was ihrem Sohn fehlt. Nach der Geburt wollten ihr die (geschockten) Ärzte den Säugling gar nicht zeigen. Unter „Akrozephalopolysyndaktylie“ hat ein Arzt in einer Enzyklopädie jene Fehlbildungen entdeckt, die entstehen, wenn die Schädelnähte im Mutterleib verknöchern: Die Form des Kopfes gerät aus den Fugen, Finger verklumpen zu „Löffelhänden“, Zehen wachsen zusammen.
Im Lauf der Jahre wurden Knochenteile aus dem viel zu großen Schädel entfernt, Augenhöhlen gemacht, eine Nase konstruiert, die Augen versetzt, aus den verknöcherten Extremitäten Finger und Zehen gebildet und die Stirn geglättet. Der jüngste Eingriff liegt zwei Wochen zurück. Der Kiefer wurde komplett umoperiert, Zähne entfernt und Marios Mund mit Kettchen und Platten versehen. Bis zu 20 Operationen muss jedes der ungefähr 200 Kinder mit Apert-Syndrom, die es in Deutschland und Österreich gibt, über sich ergehen lassen.
„Die haben mir bitte den ganzen Kopf in zwei Hälften geschnitten“, erzählt Mario, dessen Schilderungen mit den Steigerungsadjektiven „voll“ und „ur“ untermalt sind und mit ausladenden Armbewegungen unterstrichen werden. Marios erste Identität ist schließlich die eines 13-jährigen Buben, der Rad fährt, Skater-Hosen trägt, in seinem Gokart einen wichtigen Lebensinhalt sieht und lieber fernsieht, als Hausaufgaben zu machen. Schreiben hat sich Mario mit einer seltsamen Stellung aus kleinem Finger und Daumen beigebracht, den Fahrrad-Lenker hält er mit dem kleinen Finger. Essen und Sprechen fällt ihm wegen der Drähte im Mund schwer.
Marios Mutter hat vermutlich genau so oft die Identität gewechselt wie ihr Sohn. Ihr Leben, bis zu seiner Geburt fest auf den Säulen Kleinfamilie und Eigenheim verankert, wurde das einer Alleinerzieherin und verlagerte sich von einem Dorf bei Wien in die – auf plastische Chirurgie spezialisierte – Innsbrucker Klinik. Im Rahmen ihres Pilotprojekts dürfen sich Eltern erstmals auch „solche Tabus im Umgang mit Behinderten eingestehen“, so Maria Brandl.
Ein Jahr kann Mario noch die Integrationsklasse besuchen, dann nimmt ihn wegen seiner krankheitsbedingten Lernschwäche keine Schule mehr. Ein Gesetz für Integration in weiterführenden Schulen gibt es nicht. Mario hat einen eigenen Umgang mit seinen wechselnden Identitäten entwickelt. „Ich bin so hässlich“, hatte Mario voriges Jahr Gesicht Nummer 16 kommentiert. Jetzt sieht er das anders. „Ich sag‘ dem Professor einfach, er soll mich umoperieren.““