Schulische Integration ein „Auslaufmodell“?

Viele besorgte Fragen (Kommentar von Prof. Hovorka)

Schule
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Gravierende Rationalisierungs- und Einsparungsmaßnahmen (nicht nur) im Bildungsbereich folgen der Logik eines pragmatisch exekutierten Regierungsprogramms, das die soziale „Treffsicherheit“ öffentlicher Ausgaben auch im Schulbereich gewährleisten möchte. Regel- und SonderpädagogInnen sehen bereits die schulische Integration in Österreich insgesamt gefährdet. Sie befürchten, dass die Personaleinsparungen nur der erste Schritt sind, reformpädagogisches Engagement einer Elitenbildung opfern zu müssen, die für Kinder mit Behinderungen bestenfalls wieder die segregierende Sonderschule übrig lässt.

Sind diese Ängste berechtigt oder versteckt sich dahinter nur das Bedauern, für alle Beteiligten motivierende (integrations)pädagogische Settings aufgeben zu müssen und zur ziffernzensurverengten Frontalvermittlung unterrichtlicher Kernbereiche dienstverpflichtet zu werden, deren Aneignung den SchülerInnen „nicht nur Spaß“ sondern sie besser „marktfähig“ machen soll? Sind zahlreiche LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen vielleicht jahrelang der Täuschung erlegen, mit gesetzlicher Deckung durch die 15. und 17. SchOG-Novelle einen zumindest pflichtschulischen Beitrag zur vollen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen leisten zu können?

Oberflächlich betrachtet können viele um das „Nulldefizit“ kreisende besorgte Fragen mit dem empirischen Befund entkräftet werden, dass Behinderung und Integration zu sozialen Leitthemen einer offenen „Bürgergesellschaft“ geworden scheinen, die private Fürsorge vor staatliche Einflussnahme stellt, besondere Leistungen behinderter Personen massenmedial herausstreicht und für die Schwächeren sogar eine „Behindertenmilliarde“ bereithält. Bei näherer Betrachtung lässt sich jedoch eine gegenteilige Tendenz vermuten, die soziale Integration als verschärfte Auslese bei der Leistungsanpassung an eine gesellschaftliche Normalität definiert, der zunehmend mehr Menschen nicht (mehr) entsprechen können.

Der sozialen Dimension und Relativität von Behinderung wurde aber auch im Verlauf der knapp fünfzehnjährigen Erfolgsgeschichte der schulischen Integration zu wenig Beachtung geschenkt. Die Teilbarkeit von Integration zugunsten „pflegeleichter“ spF-Kinder wurde ebenso hingenommen, wie die vorhersehbaren nachschulischen Integrationshürden übersehen und das Beharrungsvermögen eines auf Selektion aufgebauten Schulsystems bagatellisiert wurden, das in Österreich erfolgreich die Einführung einer gemeinsamen Pflichtschulzeit aller Kinder verhindert hat (Gesamtschule).

Doppeltes Mandat der SPZ
Die in Österreich vorwiegend von Elterninitiativen „von unten“ forcierte Diskussion zum gemeinsamen Lernen und Leben von Kindern mit und ohne Behinderungen löste schon von Beginn an teilweise heftige Gegnerschaften nicht nur im sonderpädagogischen Berufsfeld aus, die sich kritisch mit dem „Ob“ und „Wer“ und weniger mit dem „Wie“ von Integration auseinandersetzten. Waren es anfangs Widerstände im vorschulischen Bereich, für den ein ersatzloser Verlust des sonder- und heilpädagogischen Förderniveaus befürchtet wurde, war die schulpädagogische Integrationsdebatte in den achtziger Jahren vielfach von der Befürchtung und Warnung geprägt, dass die PflichtschullehrerInnen dafür nicht ausgebildet seien, es an entsprechenden Fortbildungsangeboten fehle und die Rahmenbedingungen dafür länderweise sehr unterschiedlich einzuschätzen wären.

Inzwischen haben sich zwar integrative Grundsätze und Prinzipien in der vorschulischen und schulischen Pädagogik bis zur Sekundarstufe 1 als „Elternrecht“ weitgehend etablieren können, beklagt werden aber weiterhin die oftmals als unzureichend oder sogar kontraproduktiv bezeichneten Rahmenbedingungen im Regelschulbereich. Der stark gestiegenen Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (spF) in Regelschulen steht eine nur unwesentliche Verringerung der Zahl der SonderschülerInnen in Sonderschulen gegenüber. Diesen fällt, vielfach zu Sonderpädagogischen Zentren (SPZ) geworden, nunmehr ein doppeltes Mandat zu: Einerseits sind sie für die Erstellung der Gutachten über den sonderpädagogischen Förderbedarf der zu integrierenden Kinder zuständig, andererseits sind sie daran interessiert, die Anzahl ihrer SonderschülerInnen zumindest konstant zu halten. Der Anstieg von „spF-Kindern“ in der Regelschule hat aus Gründen der „Kostenneutralität“ bekanntlich zu einer mehr oder weniger wirksamen „Deckelung“ geführt bzw. den Ruf nach Erhöhung der Klassenschülerzahl und nach Korrektur der Relation von SchülerInnen mit und ohne Behinderungen laut werden lassen.

Nicht wesentlich weiterentwickelt wurden gleichzeitig Integrationsinhalte in der Ausbildung an den Pädagogischen Akademien sowie der Praxisbezug vieler Fortbildungsangebote. Ratlosigkeit kennzeichnete bis vor kurzem auch die Überlegungen zur integrativen Gestaltung der nachschulischen Lern- und Lebensphase behinderter Jugendlicher, denen sich weiterführende und berufsvorbereitende Schulen nur zögernd zu öffnen bereit sind. Durchgesetzt scheint sich hingegen die schulübergreifende „Tauglichkeit“ der spF-Diagnostik zu haben, die verschiedentlich bereits auf Aufnahmeprozedur diverser Berufsorientierungs- und -vorbereitungsmaßnahmen einwirkt.

Das „Recht der Stärkeren“
Es darf angenommen werden, dass viele Missverständnisse hinsichtlich einer nichtaussondernden Pädagogik u.a. auf die lange Zeit verengte Sichtweise in der Integrationsbewegung zurückzuführen sind, sich vorwiegend über pädagogische Institutionen (und Herrschaftssysteme) durchsetzen zu wollen. Dabei wurde übersehen, dass Kindergarten und Schule nur eine relativ kurze Lebensphase, und hier nur ein Segment des Alltagslebens von Kindern und Jugendlichen betreffen.

Trotz der Mehrfacherschwernisse für eine ungeteilte schulische Integration ist positiv anzumerken, dass Österreich, etwa im Vergleich zum fachpublizistisch dominanteren Nachbarstaat Deutschland, seit 1993/97 ein bundesweit verbindliches gesetzliches Regelwerk zum gemeinsamen Unterricht vorweisen kann, das keine Unterscheidung des Schweregrades von Behinderung kennt. Dessen Umsetzung auf Landes-, Bezirks- und Schulebene hat bemerkenswerte Reformmodelle hervorgebracht, die dem Wunsch vieler Eltern und LehrerInnen nach einer Pädagogik der Nichtaussonderung und Vielfalt entgegenkommen. Heterogen zusammengesetzte kleinere Klassengemeinschaften, das MehrlehrerInnensystem, projektorientierter Unterricht usw. schienen bis zu den Ende 2000 bekannt gewordenen Auswirkungen des Finanzausgleichs auf die Budgetpolitik der Länder unverrückbare Errungenschaften der Regelschule geworden zu sein, die es nur mehr qualitativ zu vertiefen galt, um auch schwer- und mehrfachbehinderte SchülerInnen in das Regelsystem einbeziehen zu können.

Diese Perspektive einer „Schule für alle“ ist vorläufig in weite Ferne gerückt: Kostenminimierung, „attraktivere“ Schwerpunktsetzungen der Länder sowie die Delegation der Verteilungskämpfe um verbleibende LehrerInnenstellen „nach unten“ stellen Bezirksschulräte und Schulleitungen vor die „autonome“ Entscheidung, ihr jeweiliges reformpädagogisches Profil finanztechnisch neu zu überdenken. Ein Verdrängungswettbewerb kündigt sich an, der, ebenso wie die mainstreamige Suche nach Sponsoren und Spendengeldern, manche Schulen zu überfordern droht und wohl kaum zum Vorteil der sozial und wirtschaftlich benachteiligten (behinderten) Kinder und deren Angehörigen entschieden werden kann.

„Amerikanische“ Zustände im öffentlichen Schulwesen sind vorauszusehen, wenn es nicht gelingt, die erreichten pädagogischen Standards abzusichern und qualitativ und quantitativ zu erweitern. Der Ruf nach Erschlankung und zielgenauer Marktorientierung pflichtschulischer Angebote begünstigt das „Recht der Stärkeren“, die in den wachsenden Privatschulbereich abzuwandern drohen, in dem Integration käuflich, wenn nicht überhaupt als Elitenbildung uminterpretiert zu werden droht („Creaming“).

Resümee:
Wenn der laufenden Einsparungsentwicklung im Bildungssektor überhaupt etwas Positives abzugewinnen ist, dann der erfreuliche Umstand, dass nun zumindest im Pflichtschulbereich LeiterInnen/LehrerInnen die leitenden Grundsätze und pädagogischen Handlungsprinzipien ihrer integrativen Unterrichtsarbeit (nicht nur mit behinderten Kindern) gemeinsam mit den Eltern und SchülerInnen zu diskutieren beginnen. PädagogInnen verlieren endlich auch die Scheu, ihre bildungs- und demokratiepolitischen Überlegungen zur sozialen Integration einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, deren Verständnis von Behinderung zunehmend wieder von der brisanten „Lebenswert“-Debatte gesteuert wird.

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