Soll das Pflegegeld abgeschafft werden?

Die beiden größten Parteien ÖVP und SPÖ des Landes haben den Beginn des Europäischen Jahres der behinderten Menschen auf ihre eigene Art und Weise gefeiert

Sie verkündeten der geschockten Öffentlichkeit, daß sie Sachleistungen und einen Pflegescheck einführen und damit das Pflegegeld abschaffen wollen.

Die Brüsseler EurokratInnen wollen mit dem Europäischen Jahr eine Förderung der Chancengleichheit, eine positive Darstellung behinderter Menschen sowie eine Sensibilisierung der Bevölkerung erreichen. Das sind durchaus löbliche Ziele, wenngleich sie von unseren wirklichen Bedürfnissen meilenweit entfernt sind. Soweit die Theorie und nun zur Praxis:

Wir haben uns den Start „unseres“ Jahres jedenfalls anders vorgestellt, als es dann über uns hereingebrochen ist: Mit Blitz und Donner, Hagel und Schneetreiben, gleich einem Wintergewitter. Und dazu mit eisiger Kälte – sozialer Kälte.

Da waren dann alle schönen Sprüche aus der Vorwahlzeit wie „Der Mensch zählt“ (SPÖ) oder „Österreich ist heute sozialer, herzlicher und wärmer als vor 3 Jahren“ ÖVP (Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel am 23. November 2002) mit einem Schlag wertlos, nur mehr Makulatur.

Begonnen hatte es am dritten Tag des neuen Jahres – was aber wie ein (schlechter) und verspäteter Silvesterscherz aussah, das war für uns blutiger Ernst: Medienberichten war zu entnehmen, daß SPÖ-Parteivorsitzender Dr. Alfred Gusenbauer für Sachleistungen beim Pflegegeld eintrete.

Schon wenige Tage später, am 9. Jänner 2003 sprach Gusenbauer im Zusammenhang mit der Bekämpfung illegaler Beschäftigungsverhältnisse davon, daß über einen Dienstleistungsscheck für Pflegeleistungen und einen Sachleistungsbezug beim Pflegegeld diskutiert werden muß. Durch einen Scheck würde die Beschäftigung in der Altenpflege legal ablaufen.

Mittlerweile hatte sich auch schon die ÖVP zu Wort gemeldet und forderte in ihrem 10-Punkte-Programm „mehr Beschäftigungswirkung durch das Pflegegeld“, Kanzler Dr. Wolfgang Schüssel bezeichnete die Einführung eines Dienstleistungsschecks als einen „interessanten Vorschlag“ und die ÖVP-Generalsekretärin und vormalige Behindertensprecherin Maria Rauch-Kallat erklärte, es sei Ziel der ÖVP, den Beschäftigungseffekt zu erhöhen. Ob dies durch eine Sachleistung oder durch einen Scheck erfolgen solle, sei noch nicht ausdiskutiert.

Noch weiteres Öl ins Feuer gossen SPÖ-Behindertensprecherin Mag. Christine Lapp, Wirtschaftsminister Dr. Martin Bartenstein (ÖVP), der den Dienstleistungsscheck auch sinnvoll fand und SP-Klubobmann Dr. Josef Cap, der sich in einem Fernsehinterview von den geplanten Maßnahmen eine Ankurbelung des Arbeitsmarktes versprach.

Unsere Empörung war groß, der Skandal perfekt: Das Pflegegeld sollte in eine Sachleistung umgewandelt und ein Dienstleistungsscheck eingeführt werden! Die Wahlfreiheit in planwirtschaftliche Maßnahmen umgewandelt werden! Ein Stück mühsam erkämpfter Mündigkeit und Selbstbestimmung in Abhängigkeit von starren Dienstleistungsanbietern transformiert werden. Freiheit gegen Abhängigkeit eingetauscht, behinderte und pflegebedürftige Menschen wieder zu Objekten der Sozialbürokratie gemacht werden nach dem Motto: „Vorwärts in die Vergangenheit!“

Wir konnten es ganz einfach nicht glauben, was da von zwei Parteien auf uns zukam, die möglicherweise eine große Koalition bilden und damit die volle Macht in diesem Staate haben werden.

Endlich erhoben sich in der Öffentlichkeit die ersten mahnenden Stimmen: So warnte der ehemalige SPÖ-Behindertensprecher Mag. Walter Guggenberger, einer der Architekten der Pflegevorsorge, seine Partei eindringlich davor, das System der Geldleistungen durch einen Dienstleistungsscheck zu ersetzen mit „Hände weg vom Pflegegeld“.

Die grüne Behindertensprecherin Theresia Haidlmayr warnte davor, daß Sachleistungen nicht nur zu einer drastischen Verteuerung des Systems führen würden, sondern auch ein selbstbestimmtes Leben der behinderten Menschen unmöglich machen würden.

Auch der neue Behindertensprecher der ÖVP, Dr. Franz-Joseph Huainigg, sprach sich in einer ersten Reaktion gegen die Umwandlung des Pflegegeldes in ein „reines Sachleistungssystem“ aus und ließ dabei offen, ob doch ein Eingriff geplant ist. Erst Tage später erklärte er gemeinsam mit der steirischen ÖVP Abg. Wicher, das „Pflegegeld muß Geldleistung bleiben“.

Freiheit soll durch Abhängigkeit ersetzt werden

Die Empörung unter den Betroffenen war riesengroß und führte zu einer Flut von Protesten an die BefürworterInnen dieser alten-, familien- und behindertenfeindlichen Maßnahmen, aber auch zu kritischen Diskussionen wie z. B. auf BIZEPS-INFO online.

BIZEPS schrieb in seinem Aufruf zum Widerstand gegen den Pflegegeldentzug: „Wir müssen dieses Einstandsgeschenk zu Beginn des europäischen Jahres der behinderten Menschen ganz energisch und unmißverständlich zurückweisen, weil dies einen massiven Eingriff in unser Selbstbestimmungsrecht darstellt.“

Eine „Plattform gegen die Abschaffung des Pflegegeldes“, der sich mit tatkräftiger Unterstützung der grünen Parlamentsfraktion neben behinderten Menschen auch Künstler sowie andere sozial engagierte Menschen sowie Behindertenorganisationen anschlossen, hatte sich spontan gebildet und gab am 16. Jänner 2003 eine Pressekonferenz, die ein ausgezeichnetes Medienecho fand und bis auf weiteres wöchentlich fortgesetzt werden soll.

Eine Abordnung von Betroffenen erklärte Dr. Alfred Gusenbauer unsere Position und in einem weiteren Gespräch mit VertreterInnen von BIZEPS sagte der SP-Chef, daß in bestehende Pflegegeldvereinbarungen nicht eingegriffen werden soll. Weiters vertritt er die Meinung, daß zwischen den Geldleistungen für ältere und denen für behinderte Personen ein Unterschied gemacht werden müßte.

Auf unseren Vorschlag wurde die Einrichtung eines Arbeitsgruppe beschlossen, die sich mit der dringend notwendigen Reform der Pflegevorsorge befassen soll.

Die öffentliche Diskussion ging mittlerweile mit unverminderter Heftigkeit weiter, teilweise sogar auf der Homepage der ÖVP.

„Es ist die SPÖ, die immer wieder über Änderungen beim Pflegegeld, die sich zu Lasten Behinderter auswirken, nachdenkt“, ärgert sich die freiheitliche Behindertensprecherin Dr. Helene Partik-Pable.

„Das Pflegegeldgesetz ist ein sozialpolitischer Meilenstein. Eine Abschaffung oder Umwandlung in einen Pflegegeldscheck oder Ähnliches kommt für mich nicht in Frage“, kritisierte Sozialminister Mag. Herbert Haupt (FPÖ) die Abschaffungspläne, weil dadurch „die subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten für die Betroffenen durch einen Pflegescheck wegfallen würden.“

Einige, die von der Materie etwas verstehen, wie z. B. der Sozialökonom und Verfasser einer vielbeachteten Studie über das Pflegegeld, Prof. Christoph Badelt, sprachen sich für die Beibehaltung des Systems aus, während andere, wie z. B. die Ärztekammer, einige Gewerkschaftsvertreter oder die SP-Bundesgeschäftsführerin, Doris Bures, abermals für den Pflegescheck plädierten.

Und immer wieder kam auch die Unterstellung, wir Betroffenen würden das Pflegegeld mißbräuchlich verwenden. Ein extrem schlecht recherchierter und sehr tendenziöser Kommentar im STANDARD, den die Betroffenen als unter der Gürtellinie empfanden, sorgte für neuerliche Empörung und für die Absendung von Leserbriefen und e-Mails.

Mittlerweile gingen die ersten Antworten der Politiker ein.

Diese waren mehr als ernüchternd: Eine 08/15-Antwort der Bundesparteileitung der ÖVP, die auf kein Argument wirklich einging, schwelgte in pathetischen Beteuerungen und kryptischen Aussagen wie z. B. „… sollte überlegt werden, an welche Qualitätskriterien der Pflege das Pflegegeld gebunden werden soll“ oder, daß für die ÖVP die „generelle Umwandlung (des Pflegegeldes) in eine neue Sachleistung“ nicht zur Debatte stehe.

Soll das nun etwa heißen, daß die ÖVP eine teilweise Umwandlung plant? Und vom Sekretariat des SPÖ-Parteivorsitzenden kam ein schnoddriger Brief, der jegliche Sensibilität vermissen ließ und es gleichfalls nicht der Mühe wert fand, auf unsere Position einzugehen.

In der Zeit-im-Bild 1 vom 23. Jänner 2003 allerdings wurde Dr. Gusenbauer mit der Aussage zitiert, das Pflegegeld solle nicht abgeschafft und die Pflegeschecks nicht eingeführt werden.

Gleichzeitig aber beharrte seine Bundesgeschäftsführerin, die Abg. Doris Bures auf den bisherigen Forderungen der Partei und von ihrem Parteivorsitzenden gibt es bisher noch kein schriftliches Statement zu dieser Aussage.

Die ÖVP-Generalsekretärin Rauch-Kallat sagte, sie möchte das bestehende System beibehalten, aber sie plädierte dafür, daß man den Beschäftigungseffekt im Bereich des Pflegegeldes erhöhen und die Qualität sichern muß. Was heißt das nun wirklich?

Jedenfalls ist das alles andere als eine Entwarnung. Das heißt für uns, wir müssen noch eindeutige Aussagen und Klarstellungen einfordern – äußerste Wachsamkeit ist auch weiterhin angesagt.

Forderungen zur Verbesserung der Pflegevorsorge

  • Valorisierung: laufend und in Form einer Einmalzahlung rückwirkend ab dem 1.1.1996
  • Schaffung einer offenen Stufe mit Direktzahlungen an Betroffene gegen Nachweis, um NutzerInnen von Persönlicher Assistenz die Möglichkeit zu geben, ihren Tagesablauf nach ihren Bedürfnissen zu gestalten
  • Entwicklung eines Assistenzsicherungsgesetzes, das die Kosten für Persönliche Assistenz finanzieren soll
  • Aufbau eines flächendeckenden Angebotes für Kurzzeitpflege zur Entlastung der Angehörigen
  • Schaffung einer begünstigten Sozialversicherung (wie. z. B. Selbstversicherung) für pflegende Angehörige
  • Aufbau einer mobilen Beratung für PflegegeldbezieherInnen und deren Angehörige
  • Vereinheitlichung der Ausbildung im Bereich der Sozialen Dienste (eventuell Einführung eines „Beratungsschecks“)
  • Hereinnahme jener Personen, die Assistenzleistungen benötigen und derzeit kein Pflegegeld erhalten
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