Ein Jahr lang mit dem Rollstuhl durch Mexiko und Mittelamerika
Im August 2010 machten meine Freundin Vicki und ich uns auf den Weg, eine für uns neue Welt zu entdecken. Plötzlich waren wir in einem Abenteuer, das uns teilweise weit abseits der üblichen Touristenwege an Orte führte, die vielleicht vor mir noch keinen Menschen im Rollstuhl gesehen haben, bis zum Schluss (am gefühlten Ende der Welt) der Rollstuhl scheinbar irreparabel zusammenbricht
Der heftige Fahrtwind bläst mir die Haare ins Gesicht, aber ich habe keine Hand frei, um sie mir aus den Augen zu wischen. Verkrampft halte ich mich mit beiden Händen am Bootsrand und an meiner Sitzbank fest. Vicki sitzt neben mir und kümmert sich um das verängstigt weinende Kind einer jungen einheimischen Mutter, die schützend ihr Baby im Arm hält.
Wir sind mitten im Atlantik, zwischen Little und Big Corn Island, einer winzigen Inselgruppe im karibischen Meer Nicaraguas, und es ist schon lang kein Land mehr in Sicht. Das Boot ist im Vergleich zum gigantischen Wellengang winzig und hat weder Echolot noch GPS, es gibt wahrscheinlich nicht einmal einen Kompass! Noch dazu ist das offene Boot hoffnungslos überfüllt. (Jeder zusätzliche Fahrgast bringt Geld, darum wurde keiner zurückgelassen. Außerdem fährt die Fähre nur zweimal die Woche.)
Als ein Sturm aufzieht, wird auch die Stimmung der Crew merklich angespannter und innerhalb von Minuten sind wir mitten in einem erbarmungslosen Gewitter. Der Kahn wird wie ein Spielball durch die Wellen geworfen und wir werden von den über Bord schlagenden Wogen (warm) und dem Regenguss (kalt) so richtig durchgespült. Seit einem Unfall vor etwa sieben Jahren bin ich querschnittgelähmt. Meine Rumpfstabilität ist eingeschränkt. Jetzt kämpfe ich mit all meiner Geschicklichkeit und den Muskeln meiner Arme, um auf meinem Sitzplatz bzw. an Bord zu bleiben.
Ist es zuhause auf meiner Couch nicht schön genug?
Genau hier und jetzt beginne ich die Sinnhaftigkeit der gesamten Reise in Frage zu stellen. Zahlt es sich aus in die verstecktesten Winkel zu reisen und sich in solche Gefahren zu begeben? Ist es zuhause auf meiner Couch nicht schön genug? Ich kann es nicht verleugnen, dass sich in meiner Brust ein gewisses Heimweh breitmacht.
Wir sind schon 11 Monate unterwegs, teilweise weitab der touristischen Trampelpfade und in Regionen, die vor mir wahrscheinlich noch nie einen Rollstuhlfahrer gesehen haben. Mit dem Ausblick auf die Entbehrungen und Strapazen, die uns noch bevorstehen, wird aus meinem Zweifel kurz Verzweiflung.
Sobald wir wieder festes Land unter unseren Füßen (bzw. Rädern) spüren, ändert sich meine Stimmung rasch, auch wenn das Land unter uns noch lange weiter schwankt. Die letzte Woche auf Little Corn Island war einfach fantastisch. Hier gibt es keine großen Hotels, nur ein paar Strandhütten, auch keine Autos oder Straßen, dafür ein türkisblaues Meer und Sandstrände ohne Ende. De Facto ist die ganze Insel ein einziger mit Kokospalmen bewachsener Sandhaufen mitten im Meer.
Das mag prinzipiell paradiesisch klingen, macht aber das Fortkommen mit einem Rollstuhl nahezu unmöglich. Irgendwie haben wir es dann (dank Vickis versteckten Kräften) doch immer geschafft bzw. jemanden getroffen, der mich ein paar Meter weiter durch den tiefen Sand zog, einmal sogar um die halbe Insel. Sobald wir unsere Standhütte bezogen hatten, wurde unsere winzige Terrasse zu meinem Königreich, das ich für die restliche Woche kaum mehr verließ. Die Hängematte (sic!) wurde zu meinem Thron, von dem aus ich – angepasst an die lokale Zeitverflieggeschwindigkeit – dem Leben beim Vorbeiziehen zuschaute.
Rollstuhldefekt am gefühlten Ende der Welt
Die Regenzeit vereitelte schließlich unseren Plan, noch tiefer in die nur per Schiff erreichbare Küstenregion Nicaraguas vorzudringen, dafür machten wir uns – nach weiteren vier Bootsfahrten – auf den Weg zum Rio San Juan, dem Grenzfluss zu Costa Rica.
Die eineinhalb Tagesreise dorthin verbrachten wir zwischen Maiskolben, Bananenstauden, Chilischoten, Reissäcken und lebenden und toten Hühnern zusammen mit ca. 100 anderen Fahrgästen in (wieder einmal hoffnungslos überfüllten) öffentlichen Bussen (die ausnahmslos alte US-amerikanische Schulbusse aus den 50er Jahren sind). Mein Erfindergeist war erneut gefordert, denn ich konnte bei den Pausen verständlicherweise nicht einfach aus dem Bus springen. Ich bin ab der Brust abwärts gelähmt und muss kathetern, um meine Blase zu entleeren – was ich mitten im Trubel hinter einem selbstgebastelten Sichtschutz erledigte.
Bei all den Transfers in und aus den Booten und Bussen war ich natürlich immer auf Hilfe fremder Männer angewiesen, die mich dann meistens zum besten Sitzplatz in der ersten Reihe trugen, während Vicki sich um das Gepäck und die Verladung des Rollstuhls kümmerte. Diese Art des Reisens funktionierte für uns nur mit leichtem Gepäck (allein die Tasche mit meinen Kathetern – gepackt für 6 Monate – war größer als alle Gepäckstücke zusammen, die wir jetzt mit uns trugen). Unsere restlichen Sachen warteten währenddessen (hoffentlich) in unserem Auto in Managua auf uns.
Hier, am gefühlten Ende der Welt, mit Blick auf Fischer in Einbaumkanus vor dem Regenwald Costa Ricas auf der anderen Seite des Flusses, mit bunten Vögeln vor und Brüllaffen hinter uns weitab von irgendeiner Werkstätte, muss mein Rollstuhl jetzt (trotz regelmäßiger Ölung) dem Salz und Sand und generell den pausenlosen und manchmal grenzwertigen Belastungen Tribut zollen. Ganz langsam knacken hintereinander drei der vier Kugellager der vorderen kleinen Räder auseinander.
Mit Entsetzen muss ich mit ansehen, wie sich schließlich das rechte Vorderrad überhaupt (und scheinbar irreparabel) aus der Halterung löst So ziemlich das Schlimmste, was uns auf der Reise passieren kann, ist eingetreten. Ohne einen funktionierenden Rollstuhl ist an ein Weiterkommen (oder Hier-Wegkommen) nicht zu denken. Am Boden zerstört lasse ich mich von Vicki gekippt nachhause rollen, wo ich wackelig und regungslos an einer Stelle sitzen bleibe. Was sollten wir jetzt bloß machen? Ist das das Ende meiner Mobilität? Ist das das Ende der Reise?
Wie alles begann
Aber erstmal langsam, wie kommen wir eigentlich hierher? Geplant war ein 6-monatiger Aufenthalt in Mexiko – einerseits, um zu arbeiten und dabei Sprache, Land und Leute kennenzulernen, andererseits, um dem österreichischen Winter zu entkommen. Doch bald schon verselbstständigten sich die Pläne, und wir ließen uns im Fluss des Reisens von der Kraft des Augenblicks tragen und verlängerten unsere Zeit gleich zweimal um jeweils drei Monate, um nicht nur Mexiko zu sehen, sondern auch Mittelamerika zu bereisen – und letztendlich in Panama zu landen
Das Abenteuer startete im Spätsommer in Kalifornien, wo ich mich kurz einer flächendeckenden Barrierefreiheit (weit über österreichischen Verhältnissen) erfreuen durfte. Nach zwei Wochen erster Welt setzten wir uns mit einem frisch erstandenen 1984er Volvo 240 GL nach Mexiko ab. Für die nächsten 11½ Monate sollte „Barrierefreiheit“ nicht nur sprachlich ein Fremdwort bleiben
Zum Beispiel blieb die Hotelsuche bis zum Schluss eine mühsame Prozedur, bei der Vicki im Durchschnitt an die fünf Hotels begutachtete, während ich im Auto wartete, um dann (nach manchmal mehreren Stunden des vergeblichen Suchens) das geringste Übel auszuwählen. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der einzelnen Leute wog dann aber viele Unannehmlichkeiten wieder auf, und wir bekamen Rampen vor unsere Hütten gebaut oder Träger zur Verfügung gestellt. Wenn wir einfach gar nichts Adäquates finden konnten, schliefen wir im Auto oder im Zelt – so auch in Baja California, einem der schönsten Flecken der Welt.
Die fetten Jahre sind vorbei
Große Teile der über 1000 km langen Halbinsel auf der pazifischen Seite Mexikos sind wild, wüstenartig und verlassen. Für über fünf Wochen campierten wir an einsamen Stränden allein in der Gegenwart von Ameisenlöwen, Fischadlern und Delphinen. Auch Baja California ist ein einziger Sandhaufen, und oft steckte ich bewegungslos im tiefen Sand fest, während Vicki unser Nachtlager alleine einrichtete. Um diesem Problem zu entgehen, quartierten wir uns manchmal – im Stile von „Die fetten Jahre sind vorbei“ – auf verlassenen Terrassen von US-amerikanischen Ferienhäusern ein.
Fernab der Zivilisation und jeglicher Sitztoilette sahen wir uns plötzlich noch ganz anderen Herausforderungen gegenüber. Da ich mich nicht hinter den nächsten Busch hocken konnte, improvisierten wir aus einem faltbaren Camping-Stuhl mit einem selbstgezirkelten Gesäßloch einen „Camping-Stuhl-Stuhl“, der mir folglich meine exkretorische Unabhängigkeit schenkte.
Teotihuacán und Popocatepetl
Wir machten es oft wie die Einheimischen, saßen in Cafés oder im Schatten herum, lernten die perfekte Aussprache von Worten wie Teotihuacán, Oaxaca und Popocatepetl, aßen gegrillte Grillen und Nopales (eine Art Feigenkaktus) in Tortillas und tranken dazu Sol und Mescal. Was mein Reisetage- bzw. Skizzenbuch prägte, waren die vielen verschiedenen Pyramiden der Azteken, Olmeken, Tolteken und Maya.
Wie zu erwarten, ist keine dieser Sehenswürdigkeiten problemlos mit dem Rollstuhl zu besichtigen. Ich war so gut wie immer auf fremde Hilfe angewiesen; meist ließ ich mich zu einem zentralen Platz schieben oder tragen, wo ich die alten Steine zeichnete, während Vicki auf Ruinenresten kletternd oft stundenlang den Dschungel erforschte. Erst auf dem kleinen Bildschirm von Vickis Digitalkamera konnte ich den Panoramablick über die Baumwipfel genießen, und mir das wahre Ausmaß der Gesamtanlage ausmalen.
Arm und ärmer – Besitz und Glück
Nach genau 180 Tagen und am letzten Tag unseres Visums ließen wir Mexiko hinter uns.
Egal, wie wir uns auch in die Bevölkerung einzugliedern versuchten, hier blieben wir einfach immer weiße Touristen und damit reich – Rollstuhlbonus hin oder her. Obwohl die Gewaltbereitschaft gegenüber Gringos (immerhin hatten wir US-amerikanische Nummerntafeln) die Reisewarnungen der internationalen Botschafts-Webseiten füllte, war unsere Erfahrung eine andere. Trotz Sprachbarrieren (Spanisch ist hier die erste oder sogar erst zweite Fremdsprache) trafen wir fast ausnahmslos freundliche Menschen, die gerade genug zum Überleben hatten, also arm, aber glücklich waren.
Dieses Szenario wiederholte sich in Folge in den weiteren von uns bereisten Regionen und ließ uns einigermaßen nachdenklich werden. In der ersten Welt sind wir in den größten Luxus eingebettet, in Wahrheit fehlt es uns an nichts, und dennoch sind viele Leute verzweifelt oder traurig, unabhängig davon, ob sie nun eine Behinderung haben oder nicht. Der Sonnenschein in den Augen dieser Menschen hier zeigte mir, dass „Glücklichsein“ nicht abhängig ist vom neuen iPhone 5, sondern vielmehr irgendwo aus dem Inneren kommt. Ich schloss daraus, dass das Glück auch nicht auf zwei Beinen steht.
6 Monate Mittelamerika im Schnellvorlauf
Sechs weitere Monate tingelten wir durch die Staaten Mittelamerikas. In Belize verinnerlichten wir hauptsächlich die Kokospalmen-gesäumten Sandstrände. In Guatemala tauchten wir im Farbenmeer der indigenen Märkte unter. Inmitten von Osterprozessionen absurden Ausmaßes kämpften wir uns in Antigua gemeinsam über das 500 Jahre alte Kopfsteinpflaster.
In El Salvador strandeten wir für über eine Woche mit einem Benzinpumpendefekt in einem entlegenen Dorf, wo sich zorro und conejo gute Nacht sagten. In Honduras tauchten wir mit Hammerhaien um Wracks und in Nicaragua fuhren wir über bachbettähnliche Straßen an den Kraterrand eines aktiven Vulkans („Bitte in Fluchtrichtung parken!“).
An der Grenze zu Costa Rica blieben wir dann auf unserem Weg Richtung Südamerika stecken. Trotz gezielter Bestechungsversuche ließen die Grenzbeamten unseren alten Volvo wegen eines „salvaged“ Eintrags in den Autopapieren nicht einreisen. Die Destinationen Costa Rica und Panama müssen wir uns also für eine weitere Reise aufheben. Eines ist damit klar, wir kommen wieder.
Jetzt aber stürzen wir uns in ein neues Abenteuer. Wir wollen die uns verbleibende Zeit nützen, um die touristisch wenig erschlossene, karibische Seite Nicaraguas kennenzulernen, lassen das Auto in Managua stehen und fliegen auf die Corn Islands
„Weld the wheel back on„
Von den Ereignissen dieses Monats berichtete ich bereits am Beginn dieses Artikels. Aber was passierte nun eigentlich mit meinem defekten Rollstuhl? Der Retter in der Not war bald gefunden. Mr. Silvio war sein Name, ein sicher 80jähriger Schweißer, der sein Leben auf Öltankern verbracht und dort auch alles Mögliche repariert hatte, wieso also nicht auch einen Rollstuhl?
Ungeachtet der filigranen High-Tech-Komponenten schweißte Mr. Silvio das Rad wieder an, sogar mit einer Drehfunktion (die auf Öltankern wahrscheinlich auch funktionieren würde). Ich war von Herzen dankbar und wieder halbwegs mobil, auch wenn bei weiten nicht mehr so wendig, wie ich es gewohnt war. Verständlicherweise war ich dadurch um einiges langsamer, aber inzwischen hatten wir uns schon lange an den hiesigen Lebensstil gewöhnt und meine neue Geschwindigkeit passte da ganz gut dazu
Kulturschock Nr.2
Nach knapp 20.000 Straßenkilometern (die nur Vicki allein am Steuer herunterspulte) tauschten wir das Auto gegen zwei Gemälde unseres Couchsurfing-Maler-Freunds in Mexiko City. (Deswegen bekommen wir heute noch Updates, wie es unserem liebgewonnenen Volvo 240 GL – inzwischen mit neuem Lack und Nummerntafeln vom Schwarzmarkt -, so ergeht.)
Generell wäre ohne Vicki die gesamte Reise in dieser Form undenkbar gewesen und nur dank ihrer physischen und psychischen Unterstützung, und ihres täglich neuen Vertrauens in das Gelingen des gesamten Unterfangens, konnten wir gemeinsam „Realisten sein, und das Unmögliche versuchen“.
Rückblickend hat die Reise unseren Horizont erweitert. Wie schnell sich doch die ansonsten so übermächtigen Probleme des Alltags relativieren lassen, wenn man nur einmal die Perspektive wechselt. Für mich war es wichtig zu erkennen, dass mir niemand sagen kann, wo meine Grenzen liegen; ich muss sie selber finden, und dabei niemand anderem gehorchen als meiner inneren Stimme, die man in unserer westlichen Welt leider allzu schnell überhört.
Neben den zahlreichen Rollstuhlbarrieren, überwanden wir auch eine handtellergroße Fersenverbrennung, zahlreiche Harnwegsinfekte und Dengue Fieber, doch die allergrößte Herausforderung der gesamten 12 Monate erwartete uns überraschenderweise zuhause – der Kulturschock des Zurückkommens, daran arbeiten wir heute noch
Der Artikel erschien in der Erstveröffentlichung in dem Fachmagazin „Behinderte Menschen“ (Ausgabe 4/5 2013)