Euthanasie und Behindertenbild bei Peter Singer; von Barbara David.
Während der australische Moralphilosoph Peter Singer im angloamerikanischen Raum vorwiegend als Tierechtaktivist bekannt ist, wird sein Name in deutschsprachigen Ländern hauptsächlich in Verbindung mit der Diskussion um Euthanasie genannt. Eine genauere Analyse seiner in dem Buch Praktische Ethik vertretenen Thesen über behinderte Menschen und Euthanasie findet dabei kaum statt.
Seit 1989 führten Auftritte Singers regelmäßig zu zum Teil sehr emotionell geführten Debatten über seine Thesen zur Euthanasie. Immer wieder wurden Singers Theorien in Verbindung mit der Euthanasie der Nazis gebracht. Singer bezieht sich in seinem Buch Praktische Ethik hauptsächlich auf einen Utilitarismus bzw. Präferenz-Utilitarismus klassischer Prägung.
Im Utilitarismus Singers ist eine Handlung dann richtig, wenn sie gleichviel oder sogar mehr Glück produziert als eine andere Handlung und sie ist dann falsch, wenn sie das nicht tut. Der Präferenz-Utilitarismus geht von den Interessen der verschiedenen Wesen aus. Dabei darf aber nicht allein von den eigenen Interessen ausgegangen werden, sondern es müssen die Interessen aller Beteiligten miteinbezogen werden. Die beste Handlungsmöglichkeit ist daher jene, welche die Interessen aller Betroffenen am meisten berücksichtigt.
Leidensfähigkeit konstituiert Persönlichkeit
Grundvoraussetzung um überhaupt Interessen zu haben, ist die Leidensfähigkeit. Deshalb setzt das Gleichheitsprinzip Singers auch nicht an Eigenschaften wie Intelligenz, Kultur usw. an, sondern an der Leidensfähigkeit der Betroffenen.
Wesen, die Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Abstraktionsfähigkeit, komplexe Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit sich in einer zeitlichen Abfolge wahrzunehmen haben, werden anders bewertet als Wesen, die dies nicht können. Daran macht Singer auch die Grenze zwischen Personen und Nicht-Personen fest.
Er unterscheidet nicht primär zwischen Menschen und Tieren, sondern zwischen Wesen, welche die oben genannten Fähigkeiten besitzen und jenen, die das nicht tun. Nur Wesen, welche diese Eigenschaften besitzen, sind Personen. Zu dem Kreis der Personen zählen neben den meisten Erwachsenen zwar auch manche Tiere, (z.B. Primaten) aber nicht Menschen, die unfähig sind sich als Person zu erkennen und mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten.
Singer bezeichnet solche Menschen neben Koma-Patienten und schwer- und schwerstbehinderten Menschen auch Säuglinge, im Prinzip unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht lediglich als „Mitglieder der Spezies Homo Sapiens“. Sie haben den gleichen Status wie die meisten Tiere. Die Trennlinie, ab wann es moralisch weniger bedenklich ist ein Wesen zu töten, verläuft also nicht zwischen Mensch und Tier, sondern zwischen Personen und Nicht-Personen.
Euthanasie vermindert Leiden
Auf diesen Grundlagen baut Singer seine Philosophie auf. Er befürwortet die Euthanasie, da sie seiner Logik entsprechend ein Mittel ist, Leiden zu vermindern und somit die Glück-Leid-Bilanz zu verbessern. Singer unterscheidet dabei zwischen freiwilliger- und „nichtfreiwilliger“ Euthanasie.
Von der „nichtfreiwilligen“ Euthanasie sind all jene betroffen, welche die Entscheidung, ob sie sterben wollen nicht bzw. nicht mehr verstehen können oder die nicht in der Lage sind ihre Zustimmung zu geben. D.h. von der „nichtfreiwilligen“ Euthanasie sind vor allem Koma-PatientInnen und schwerstbehinderte Säuglinge betroffen. Es kann aber auch bei schwerstbehinderten Erwachsenen der Schluss gezogen werden, dass sie zu viel leiden und deshalb getötet werden soll. Auch wenn ein behindertes Kind stirbt und die Eltern statt dessen ein gesundes bekommen, verbessert das die Glück-Leid-Bilanz, was Singer begrüßenswert findet.
Auch bei der Euthanasie ist die Glück-Leid- Bilanz wichtiger als das individuelle Schicksal. Singer geht davon aus, dass durch die Legalisierung der Euthanasie auch Menschen getötet werden könnten, deren Krankheit im Prinzip heilbar ist. Doch nachdem der Singerschen Logik zufolge die Euthanasie global gesehen die Glück-Leid-Bilanz verbessert, ist es nicht so wichtig, wenn ein paar Menschen mehr sterben als vorgesehen. Die Glück-Leid-Bilanz bestimmt aber auch sein Bild behinderter Menschen.
Für Singer ist eine Behinderung eine biologische Tatsache, die in jedem Fall zu einer Einschränkung der Lebensqualität führen muss. Dass Behinderung auch in einem sozialen Kontext gesehen werden kann und durch die Änderungen sozialer Bedingungen das Leben behinderter Menschen entscheidend verbessert werden könnte, streitet Singer kategorisch ab. Singers Utilitarismus im Zusammenhang mit seinem Gleichheitsprinzip und seinem Konzept von Personen und Nicht-Personen ist zum Teil sehr stark vereinfachend.
Wo endet Normalität?
Die Menschheit lässt sich aber nicht auf Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Abstraktionsvermögen, usw. reduzieren. Vielmehr muss sie auch im Kontext von Kultur, Geschichte und Gesellschaft gesehen werden. Singers Konzept ist oberflächlich und greift in wesentlichen Bereichen zu kurz. Es ist nicht nur menschenverachtend, sondern auch behinderten Menschen gegenüber paternalistisch.
Die Reduktion der Gesamtheit menschlichen Lebens auf die Glück-Leid-Bilanz und auf die Abwägung von Interessen, versperrt die Sicht auf differenziertere Analysen des Problems von Behinderung in der bzw. durch die Gesellschaft. Singer hat sich gegen die Angriffe von Behindertenverbänden mit dem Argument verteidigt, dass nicht ihre Vertreter damit gemeint wären, sondern nur schwerstbehinderte Säuglinge.
Für jene, die seiner Definition nach Personen sind, würde er sich gemäß dem Gleichheitsprinzip einsetzen. Das dahinter stehende Problem ist jedoch, dass bevor die Behinderungen auftreten es selten möglich ist genaue Prognosen über das weitere gesundheitliche und lebenspraktische Schicksal zu geben.
Und selbst wenn eineR in die Kategorie „Schwerstbehindert“ fällt, ist das noch lange keine Garantie, dass sie oder er mehr leidet als eineR, der oder die in die Kategorie „Normal“ fällt. Die Problematik fängt also nicht erst mit Peter Singer und seinen Thesen an, sondern schon mit den Etiketten, die verteilt werden und deren Wert sich danach festsetzt, wie weit ein Mensch von der Königskategorie „Normal“ entfernt ist.
Ist Singer ein Nazi?
Dieser Vorwurf ist Ergebnis seiner Theorien bezüglich Euthanasie und hier insbesondere bezüglich der Kindereuthanasie von schwerstbehinderten Säuglingen.
Mit der Naziideologie haben Singers Theorien das Argument der Leidvermeidung und die in Ansätzen utilitaristische Argumentationsweise gemein. Jedoch haben die Nazis diese Argumentationen mit ökonomischen und nationalistischen Elementen verbunden. Den Nazis ging es in erster Linie um die „Gesunderhaltung des deutschen Volkskörpers“. All das ist bei Singer nicht der Fall, weshalb der Nazivorwurf auch nicht haltbar ist.
Die Theorien auf welchen die Nazis aufbauen konnten, waren Ergebnis von 40 Jahren Theoriebildung der Eugenik- und der Euthanasiebewegungen. Diese Bewegungen hatten BefürworterInnen in allen politischen Lagern. Auch heute sind die BefürworterInnen von Euthanasie und Gentechnologie die im weitesten Sinne die Nachfolge der Eugenik angetreten hat nicht in der extremen Rechten, sondern hauptsächlich in liberalen Kreisen anzutreffen. So würde ich Peter Singer von seiner Zugangsweise auch eher einem liberalen als einem rechtsextremen Spektrum zuordnen.
Eugenischen Auslese
Das macht die Entwicklungen besonders bei der Kindereuthanasie und der reproduktiven Gentechnologie nicht weniger bedenklich. In Frankreich ist die Euthanasie bei behinderten Früh- bzw. Neugeborenen bereits zur Normalität geworden. So war in der Zeitung die Zeit im Februar 2000 zu lesen, dass drei Viertel der französischen Ärzte bei behinderten Neu- bzw. Frühgeborenen aktive und passive Euthanasie betreiben.
Eine andere Entwicklung im Bereich der Gentechnologie, die im Moment durch viele Medien geht, ist die Präimplantationsdiagnostik (PID). Mit dieser Technik werden vor einer in vitro Fertilisation die im Reagenzglas erzeugten Embryonen auf mögliche „Gendefekte“ untersucht. Nur die gesunden werden schließlich für die Einleitung einer Schwangerschaft verwendet. Was in der aktuellen Diskussion meist interessiert, ist das Schicksal der Embryonen, die nicht eingepflanzt werden. Es wird die Frage gestellt, ob es ethisch vertretbar sei Embryonen einfach zu töten.
Angesichts dieser Entwicklungen erscheinen die Theorien Singers altmodisch. Durch den gentechnologischen Fortschritt ist die Euthanasie nur noch Ergänzung, um die Utopie einer leidfreien Gesellschaft mit lauter schönen und leistungsfähigen Menschen zu verwirklichen.
Was bleibt ist die Frage welches Lebensrecht Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten in einer Welt haben, in der die Leidvermeidung und das Funktionieren von Menschen einen so großen Stellenwert eingenommen haben. Es bedarf keiner rechten Theorien, um große Teile der Menschheit aus der gesellschaftlichen Mitte auszuschließen. Liberalismus und Leistungsgesellschaft reichen vollkommen aus, um den Wert eines Menschen danach zu beurteilen, was sie/er für unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem leisten kann.
Darum erscheint es auch als die beste Lösung Menschen, die viele Kosten verursachen und wenig oder gar nichts für dieses System beitragen können, gar nicht erst entstehen zu lassen. Es wäre naiv zu glauben, dass es lediglich um die Vermeidung von Leid ginge, denn die Leistungsgesellschaft verursacht mehr Leid, als alle Erbkrankheiten zusammen. Und schließlich ist es auch sicher kein Zufall, dass so viel Geld in die Genforschung investiert wird.