Wider die „Duldung“ von Menschen mit Behinderungen

In einem Leserbrief in der auflagenstärksten Zeitung Österreichs, der Neuen Kronenzeitung, schreibt Herr L., dass er es "nicht als falsch empfindet, wenn Menschen trotz einer Behinderung (...) nach vorne kommen."

Leserbrief gegen Jarmer in der KRONE
Kronenzeitung

Hier wird – so flott, dass man es fast überliest – unterstellt, dass Menschen mit Behinderungen zu „dulden“ sind. Dass eine Behinderung – oder Beeinträchtigung – zwar ein Grund wäre, Menschen mit Behinderungen aus der politischen Mitte auszuschließen. Aber, aus „Gnade“ – und wohl auch „Mitleid“ – „dürfen“ auch Menschen mit Behinderungen in Österreich mitmischen.

Die Diktion „es als nicht falsch zu empfinden“, dass Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Leben gleichberechtigt partizipieren, gibt zu verstehen, dass Menschen mit Behinderungen als nicht gleichberechtigt angesehen werden. Die „feine Abstufung“, die hier sprachlich hineingewebt wird, widerspricht nicht nur der gleichberechtigten Gesellschaft, zu der sich die öffentliche Meinung regelmäßig und vollmundig bekennt.

Von der „Duldung“ der so genannten „Anderen“ ist es nicht mehr weit zu deren völliger Ausgrenzung. Dieses Denken ist vor allem angesichts Österreichs jüngerer Geschichte nicht nur bedenklich, es ist ein Verstoß gegen den anti-faschistischen Grundkonsens: das Bekenntnis, dass niemand ausgegrenzt werden darf und soll.

Herr L. schreibt weiter über die Kosten, die auf Grund der Dolmetschung für die neue – gehörlose – Nationalratsabgeordnete Helene Jarmer entstehen werden und wer diese begleichen wird. (Hier ein großes Bild des Leserbriefes der Printausgabe.)

Barrierefreies Parlament

Ganz allgemein ist festzuhalten, dass das österreichische Parlament im Zuge der Umsetzung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen barriereärmer werden muss. Da sich die Regierung zur Erfüllung aller Menschenrechte für alle Menschen mit Behinderungen verpflichtet hat, ist zB auch die Kommunikation des Parlaments barrierefrei zu ermöglichen. Daher ist das Parlament verpflichtet, die Dolmetschung von Parlamentssitzungen in ÖGS völlig unabhängig von möglichen ParlamentarierInnen zu gewährleisten.

Persönliche Assistenz

Dass die Parlamentspräsidentin, Mag. Prammer, als Folge der barrierefreien Kommunikation nach einer grundsätzlichen Lösung für die Finanzierung von Assistenzleistungen sucht, ist sehr begrüßenswert. Angesichts der Verpflichtung, die Barrierefreiheit von Menschenrechten für alle Menschen mit Behinderungen in Österreich sicherzustellen, sollte jedoch nicht nur nach einer Lösung für ParlamentarierInnen gesucht werden; es bedarf, wie auch der Einstieg von Frau Jarmer ins Parlament aufzeigt, einer allgemein gültigen Regelung der Assistenz für alle Menschen mit Behinderungen.

Jede Unterstützung für Menschen mit Behinderungen, die über Pflege – und damit das Pflegegeld – hinaus geht, ist „Assistenz.“ Sie ist als umfassende Leistung bereitzustellen und sollte im Sinne der Konvention nicht durch einzelne Institutionen oder Personen individuell erkämpft werden müssen.

Wenn „Diversität“ nicht ein schmallippiges Modewort in den Stuben von Personalchefs und auf den Umschlägen von hochglanzpolierten EU-Broschüren sein soll, wenn es die Regierung damit ernst meint, dann sollte eine unmittelbare Replik der Kronenzeitung auf Herrn L.s Leserbrief genauso selbstverständlich sein wie die ÖGS-Dolmetschung aller Parlamentssitzung und die grundsätzliche Regelung von Assistenz für alle Menschen mit Behinderungen.

Nie wieder!

Die „Duldung“ von Menschen mit Behinderungen und das Infragestellen der Partizipation und damit Inklusion in der österreichischen Gesellschaft haben in einem Land, in dem in Gugging, Spiegelgrund, Hartheim und an anderen Orten Menschen mit Behinderungen traktiert, misshandelt, geschändet, gefoltert und ermordet wurden, nichts verloren.

Das sollten wir alle nie vergessen.

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