Wider die Sprachlosigkeit

Diversität? Ein schweres Wort. Es steht für Vielfalt, Ausdruck dessen, dass wir alle verschieden sind. Man kann dazu auch Buntheit sagen.

Marianne Schulze
Licht für die Welt

Hier im Museum Moderner Kunst, Lentos, sind wir umgeben von bunten Bildern und Kunstobjekten: die Buntheit als Spiegel unseres Verschiedenseins.

Wir sind alle verschieden und gleich an Rechten geboren. Das ist die Kernbotschaft der Menschenrechte: auch wenn wir verschiedene Begabungen und Neigungen haben, wir sollen alle die gleichen Chancen haben, uns zu verwirklichen und in die Gesellschaft einzubringen.

Am 3. Dezember werden Menschen mit Behinderungen weltweit in den politischen Fokus genommen: ein internationaler Tag ist die Möglichkeit, auf die Situation von Menschen – heute Menschen mit Behinderungen – oder auch ein Thema aufmerksam zu machen. Es ist ein wichtiger Tag, um Anliegen zu kommunizieren, deutlich zu machen, was nicht passt.

Für Menschen mit Behinderungen gibt es eine ganze Reihe an Anliegen, da die Verwirklichung einer barrierefreien und inklusiven Gesellschaft, wenn überhaupt, Stückwerk ist.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen das aktive, gleichberechtigte Mitwirken in der gesellschaftspolitischen Mitte vorschreibt, ist noch ein Zukunftsbild. Die Ist-Situation aufzuzeigen und Möglichkeiten der Umsetzung zu verdeutlichen, ist ein Teil eines solchen internationalen Schwerpunkttags.

Am internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen geht es ganz zentral auch um die „andere Seite“: um die österreichische Gesellschaft und die Möglichkeit, darin selbstbestimmt Barrierefreiheit, Inklusion und Chancengleichheit zu leben.

Will man selbstbestimmte Menschen?

Eine zentrale Frage an diesem Tag ist: will man in Österreich, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt als selbstbestimmte Menschen leben? Das ist die Frage, die man an einem Tag wie heute stellen muss. Das ist die Frage, die sich die österreichische Gesellschaft heute stellen muss.

Mit dem Diversitätstag hier im Lentos Museum, wird ein kräftiges, buntes und lautes Signal gesetzt, dass ein gleichberechtigtes Miteinander nicht nur möglich ist, sondern, dass es für alle, gerade auch für jene, die keine offensichtliche Behinderung haben – um das einmal so zu umschreiben – eine Bereicherung ist, Inklusion und Barrierefreiheit zu leben.

Der Diversitätstag ermöglicht allen Beteiligten über ihr Erleben zu sprechen. Was meine ich damit? Im Alltag werden Menschen mit Behinderungen vielfach mit Sprachlosigkeit und Unbeholfenheit konfrontiert: weil jemand blind ist, verabschiedet man sich nicht, weil jemand eine intellektuelle Beeinträchtigung hat, wird erst gar nicht mit ihm gesprochen – die Liste lässt sich lange fortsetzen.

Sprachlosigkeit gegenüber dem Unbekannten, die Unbeholfenheit im Umgang mit Behinderung und Beeinträchtigung. Das ist Alltag. Alltag ist auch, verspottet, gehänselt und sonst noch mit Kommentaren bedacht zu werden, einzig, weil man eine Behinderung hat und das Gegenüber unbeholfen und vor allem sehr ignorant ist.

Mit Sprache werden Barrieren gebaut

Da kommt einem „man ist nicht behindert, man wird behindert“ in den Sinn: durch die Sprachlosigkeit oder die – vielfach ans Menschenverachtende grenzende – Sprache, werden Barrieren gebaut und gefestigt.

Soziale Barrieren: Vorurteile, Stigma, Stereotypen und all die anderen Formen von Diskriminierung sind wohl die größte Hürde, die es in der Verwirklichung von Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen zu überwinden gilt. Es ist dies eine Hürde, deren Abbau nicht durch bauliche Maßnahmen möglich ist. Da ist jeder für sich eine Baustelle mit Ängsten, Vorurteilen und einer kräftigen Portion Ignoranz, die abgebaut werden muss.

Dass man diese sozialen Barrieren überwinden kann, zeigt der heutige Diversitätstag. Dass man sie Abbauen muss – und zwar ein bisserl dalli – sagt die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Statt Sprachlosigkeit, ein barrierefreies Kommunizieren. Statt Vorurteil, der Respekt für den Einzelnen, seine Würde und seine Rechte. Das gilt natürlich auf für die Einzelne.

In der Buntheit der Gesellschaft soll jeder und jede seine und ihre Chancen verwirklichen und leben können: gelebte Chancengleichheit in einer barrierefreien und inklusiven Gesellschaft.

So ein internationaler Tag ist wichtig, um den Blick nach vorne, aber auch nach hinten zu lenken: was wurde schon alles bewältigt; was liegt noch vor uns?

Verbrechen des Nationalsozialismus

Menschenrechte sind auch eine Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Auch die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist Teil dieser Antwort.

Die unvorstellbaren und teilweise unaussprechlichen Verbrechen des Nationalsozialismus haben vor Menschen mit Behinderungen nicht Halt gemacht; vielmehr zeigt sich die Tiefe der Menschenverachtung des Nationalsozialismus in der systematischen Verfolgung von Menschen mit Behinderungen.

Nicht weit von hier, in Hartheim, sind mehr als 30.000 Menschen mit Behinderungen ermordet worden. 30.000. Menschen. Weil sie nicht konform waren, mit dem Menschenbild des Nationalsozialismus. Es ist eine unvorstellbar große Zahl von Menschen, die ihrer Würde beraubt, entmenschlicht und schließlich ermordet wurden, in einer Gaskammer, von der gesagt wird, dass sie zu den schnellst-arbeitenden des Dritten Reichs zählte.

Die Zahl hemmt die Vorstellung dessen, welche einzelnen Schicksale sich hier verborgen haben. Der Versuch, sich einzelne Gesichter vorzustellen, wird von der Wucht der Anonymität einer so großen Menschenmenge fast erdrückt.

Unter diesen vielen – tausenden – Menschen, deren einziges „Vergehen“ es war, eine Behinderung zu haben, war auch mein Urgroßvater. Ein gut situierter Zellstofffabrikant am Wilhelminenberg in Wien, war Adolf Böhm auch ein Mitglied des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde. Sein Hobby war der politische Zionismus und seine Recherchen dazu hat er in einer Abhandlung – „Die Zionistische Bewegung“ – zusammengefasst.

Daher war er für die Nazis, konkret für Adolf Eichmann, eine Schlüsselfigur. Der psychische Druck, der in weiterer Folge auf ihn ausgeübt wurde, hat einen Nervenzusammenbruch bedingt, von dem sich mein Urgroßvater wohl nicht mehr erholt hat. Details dazu gibt es keine, die Akten über Schlüsselfiguren wie Adolf Böhm wurden systematisch vernichtet. Es gilt als gesichert, dass er, im Rahmen der so bezeichneten T4-Aktion in Hartheim vergast wurde.

Menschenrechte dürfen nicht zur leeren Rhetorik verkommen

Das sind wir den Ermordeten von Hartheim und auch uns selbst schuldig; sowie jenen, die auch in Zeiten unerbittlicher Verfolgung und Menschenhatz eine schützende Hand ausgestreckt haben, oftmals unter Einsatz ihres Lebens Widerstand geleistet haben und damit die Grenzen von Menschenwürde und Selbstachtung klar gezogen haben.

Eine neue Studie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, zu Verhetzung bringt Alarmierendes zutage: die Verspottung und Herabwürdigung von Menschen mit Behinderungen nimmt wieder zu. Sie wird wieder salonfähiger.

In wirtschaftlich unsicheren Zeiten müssen Solidarität, Respekt und Achtung weichen, um Ängsten, Unsicherheiten und Respektlosigkeit Platz zu machen.

Müssen sie das?

Die Sprachlosigkeit, die oft herrscht, wenn Menschen mit Behinderungen im Alltag auftauchen, ist das eine. Sie ist falsch und muss auf Basis eines neuen Bildes von Menschen mit Behinderungen überwunden werden. Aber Sprachlosigkeit angesichts einer Zunahme von Feindseligkeiten gegenüber Menschen, die auf Grund ihrer schulischen und beruflichen Biografie am Rande der Gesellschaft stehen: das ist inakzeptabel.

Wir brauchen keine Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, um klar zu sagen: nie wieder. Das ist Teil unseres demokratischen Selbstverständnisses und Ausdruck des antifaschistischen Grundkonsenses Österreichs. Denn – ohne übertreiben zu wollen oder Schreckensszenarien zu malen – wie Yehuda Bauer richtig sagt: der Nationalsozialismus war nicht einmalig. Er war erstmalig.

Auch deshalb brauchen wir jeden Tag Diversitätstag; brauchen wir Diversität als selbstverständlichen Teil des Alltags; als Teil unseres individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnisses, um uns selbst und damit uns alle vor Abgründen zu schützen, in deren Nähe wir nicht mehr kommen sollten.

Wir sind alle verschieden und gleich an Rechten geboren

Jede und jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung, selbstbestimmt zu leben. Wer Unterstützung braucht, um Barrieren zu überwinden, hat ein Recht auf diese Unterstützung. Die sozialen Barrieren sind Hindernisse, die die gesellschaftspolitische Mitte aus dem Weg räumen muss; in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wesentlich mehr – und nicht weniger.

Ich wünsche Ihnen einen farbenfrohen Diversitätstag und uns allen: alle Menschenrechte für alle, für einen vielfältigen, barrierefreien und inklusiven Alltag.

Rede zum 3. Dezember 2010 beim Diversitätstag der Caritas-OÖ, Lebenshilfe-OÖ und SLIÖ-OÖ im Museum Moderner Kunst, Lentos in Linz

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